Antitotalitäre Traditionen im Kulturvergleich : Ein deutsch-französischer Intellektuellenstreit
Zusammenfassung
Im Zentrum meiner Arbeit steht die in den letzten 50 Jahren stattgefundene Auseinandersetzung französischer und deutscher Intellektueller mit den Totalitarismen dieses Jahrhunderts. Welche Folgen zeitigt diese für die politische Diskurskultur beider Länder, ihre Europabilder und ihr Verhältnis zu Osteuropa heute? Die vergleichende Rekonstruktion der französischen und deutschen Debatten erlaubt es, der Entstehung bestimmter, immer wiederkehrender Denkfiguren auf die Spur zu kommen: 'Antifaschismus', 'Antikapitalismus' und 'Antikommunismus' bzw. 'Anti-Antikommunismus' sind derartige Denkmuster, die bis heute der Identitätsstiftung intellektueller Milieus in Frankreich und Deutschland dienen und politische Lagerbildungen forcieren. In Frankreich und Deutschland sind die intellektuellen Debatten um den Totalitarismus nahezu spiegelverkehrt verlaufen. Aus der anfänglichen positiven Faszination der französischen Intellektuellen am 'linken' Totalitarismus in den fünfziger Jahren entwickelte sich über die Jahrzehnte ein Milieu und Denkraum, deren gemeinsamer Bezugspunkt ein dezidiert antitotalitäres Selbstverständnis war. Die Anfangsjahre der Bundesrepublik waren im Gegensatz zu Frankreich von einem antitotalitären Konsens geprägt. Er kristallisiert sich geradezu paradigmatisch in der Eröffnungsveranstaltung des 1950 in Berlin gegründeten, später in Paris arbeitenden Kongresses für kulturelle Freiheit. Die Kongreßgründer zeichnete damals eine gleichermaßen antifaschistische wie antikommunistische Grundhaltung aus - ein antitotalitärer Konsens, der die weitere Arbeit der Intellektuellen im Zusammenhang dieses Kongresses bestimmte. In Deutschland kann man in der Folgezeit das Aufbrechen dieses antitotalitären Konsens beobachten; die politisch-intellektuellen Lager konstituierten sich entlang der dichotomen Denkfiguren 'Antifaschismus' versus 'Antikommunismus'. Entlang der Analyse deutscher und französischer Debatten der letzten 50 Jahre stelle ich einschneidende politische Ereignisse der Realgeschichte und deren Rezeption auf seiten der Intellektuellen gegenüber. Ausgelöst wurden sie von gravierenden historischen Einschnitten, die allesamt auf die Krise und später das Ende des Kommunismus verweisen: die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956; der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts 1968 in Prag; der Polnische Sommer und die Verhängung des Kriegsrechts 1980/81; der Zusammenbruch des Kommunismus 1989 und später der Krieg im ehemaligen Jugoslawien seit 1991. Die Auseinandersetzung mit diesen realhistorischen Brüchen hatte maßgebliche Folgen für die Selbstverortung der Intellektuellen, um die öffentlich gestritten wurde. Antitotalitäre Optionen, die den Nationalsozialismus, den Faschismus und den Kommunismus vergleichend in den Blick nehmen und fester Bestandteil der französischen Diskurkultur sind, waren in deutschen Debatten bis weit über das Jahr 1989 hinaus nahezu verpönt. Dies zeigte sich nicht nur im Historikerstreit 1986, sondern auch in der Debatte um das Schwarzbuch des Kommunismus 1998. Sorgen in Frankreich Positionswechsel und Revisonen für eine lebendige Debattenkultur, so fürchtet man in Deutschland gleich um die Demokratie, wenn sich politische Lager verwerfen. Ein offener, lebendiger Streit jenseits dieser Lager wäre nicht nur in Deutschland wünschenswert, sondern böte die Voraussetzung einer tatsächlich europäischen Öffentlichkeit jenseits nationaler Scheuklappen.
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