A b s t r a c t

Sinn, Arndt:

Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts

Vom Tatbestand der Nötigung bzw. vom Nötigungsunwert ging seit der ersten Fassung einer Nötigungsvorschrift im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 in dessen § 1077 II 20 für viele Generationen von Juristen eine große Faszination aus. Die Diskussion ist bis zur Gegenwart nicht zur Ruhe gekommen. Es wurden zahlreiche Vorschläge zur Reform des Nötigungsparagraphen gemacht, die kaum wesentlichen Einfluss auf die heutige Fassung des § 240 StGB hatten.

Die vorliegende Arbeit versucht anhand der dem heutigen Strafrecht zugrundeliegenden Prinzipien und Wertungen, den Nötigungstatbestand in § 240 StGB aus dem Strafrechtssystem zu entwickeln und ihn neu darin einzuordnen. Im Anschluss an eine Darstellung der Grundlagen des Strafrechtssystems wird das Rechtsgut des § 240 StGB und der Nötigungstyp bestimmt. Dieser Teil der Untersuchung führt zu dem Ergebnis, dass § 240 StGB nicht die Verletzung unbestimmter Freiheitsbereiche beschreibt. Vielmehr wird einzig die Willensentschließungsfreiheit des Opfers - gedacht als Freiheit von einer spezifischen Instrumentalisierung seiner Entschlussfähigkeit - geschützt.

Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden im Rahmen einer Gesamtdarstellung, die auch die praktischen Konsequenzen dieser Nötigungskonzeption beleuchtet, die Tatbestandsmerkmale der Nötigung, insbesondere die Zwangsmittel "Drohung mit einem empfindlichen Übel" und "Gewalt" in Wechselwirkung zum Deliktstyp neu bestimmt. Die bisherigen Erkenntnisse in Rechtsprechung und Literatur werden dabei verarbeitet und kritisch reflektiert. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.1.1995 zu Sitzblockaden und die darauf folgende Rechtsprechung sowie die Stimmen aus der Literatur finden dabei Eingang in die Argumentation. Im Anschluss daran wird unter Verwendung der im Laufe der Arbeit gewonnenen Ergebnisse die Verwerflichkeitsklausel (§ 240 Abs. 2 StGB) auf ihre Bedeutung für die Unwertbegründung auf Tatbestandsebene oder den Unrechtsausschluss auf Rechtswidrigkeitsebene untersucht. Für die Unwertbegründung ist dabei von Interesse, ob der Tatbestand der Nötigung einer Ergänzung des § 240 Abs. 2 StGB bedarf. Für die Möglichkeit des Unrechtsauschlusses ist von Bedeutung, ob sich in § 240 Abs. 2 StGB das Prinzip einer Rechtfertigung erkennen lässt, welches es ermöglicht, die Verwerflichkeitsklausel als Unrechtsausschließungsgrund einzuordnen. Letztendlich wird nachgewiesen, dass § 240 Abs. 2 StGB für den Typ "Nötigung" keine Bedeutung hat.

Mit der Untersuchung entsteht eine Nötigungskonzeption, die sich harmonisch in das heutige Strafrechtssystem einfügt und für eine Vielzahl von Einzelproblemen eine Lösung anbietet.