Michael Bäuerle

Zusammenfassung der Dissertation

„Vertragsfreiheit und Grundgesetz. Normativität und Faktizität individueller Vertragsfreiheit in verfassungsrechtlicher Perspektive"

gemäß Anlage I der Promotionsordnung des Fachbereichs Rechtswissenschaft

 

Die Vertragsfreiheit wird heute sowohl im Zivilrecht als auch im Verfassungsrecht zumeist als formale Gewährleistung individueller Autonomie verstanden. Dieses Verständnis knüpft an die Sozialphilosophie des 19. Jahrhunderts an, in der sich die Vertragsfreiheit neben Eigentum und Markt zur Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hatte. Ausgehend vom Bürgschaftsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts stellt die Arbeit dieses Verständnis auf die Probe, indem sie zunächst aufzeigt, warum die bürgerlich-liberale Konzeption der Vertragsfreiheit ihren Anspruch auf größtmögliche Selbstbestimmung aller historisch nicht erfüllen konnte; sodann macht sie eine Analyse der heutigen rechtlichen, sozialen und ökonomischen Wirklichkeit des Vertrags zur Grundlage einer Revision des verfassungsrechtlichen Verständnisses der Vertragsfreiheit.

Die rechtliche Analyse zeigt, daß die Fortbildung des liberalen Vertragskonzepts unter dem Grundgesetz größtenteils ohne verfassungsrechtliche Anbindung stattfand. In Zivilrechtswissenschaft und Rechtsprechung konnte zudem Übereinstimmung über Grund und Grenzen der Vertragsfreiheit nicht erzielt werden. Aus rechtssoziologischer und ökonomischer Sicht ist die soziale Wirklichkeit des Vertrags in vielen Bereichen von faktischen Imparitäten der Vertragspartner und effizienzwidrigen Strukturen gekennzeichnet, die zu Umverteilungen und Wohlfahrtsverlusten führen, die weder durch das Selbstbestimmungskonzept des BGB noch durch die Theorie des Marktes intendiert sind.

Vor diesem Hintergrund kann das verbreitete apriorisch-liberale Grundrechtsverständnis der Vertragsfreiheit nicht überzeugen: Die Vertragsfreiheit wird zwar durch die Grundrechte der Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG geschützt, dieser Schutz bedarf jedoch der Ausgestaltung durch das einfache Recht und knüpft insoweit an ein von der herrschenden Auffassung abweichendes Autonomiekonzept an. Die einschlägigen Grundrechte verlangen in dieser Konzeption eine gesetzgeberische Ausgestaltung des Vertragsrechts, die die reale Selbstbestimmung des Menschen in Übereinstimmung mit Markt und Wettbewerb zu wahren sucht. Der Grundrechtsschutz hat insoweit zugleich eine leistungsrechtliche und eine abwehrrechtliche Dimension und läßt sich in die Kategorien eines „Normbestandsschutzes“ und eines „Normanwendungsschutzes“ einteilen. Die Grundrechte verlangen in leistungsrechtlicher Hinsicht die Schaffung eines an der natürlichen Selbstbestimmung ausgerichteten Vertragsrechts; in abwehrrechtlicher Hinsicht ist eine rechtliche Ausgestaltung gefordert, die die vielfältig feststellbaren faktischen Imparitäten von Vertragspartnern im Interesse der Verhinderung von Fremdbestimmung ausgleicht. Dem Gesetzgeber obliegt insoweit eine Abwägung zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtseingriff; bei der Erfüllung dieser Aufgabe kommt ihm ein weiter Spielraum zu, für dessen Ausfüllung der Grundsatz der praktischen Konkordanz, das Sozialstaatsprinzip und Art. 3 GG Leitlinien bilden.

Je mehr der Gesetzgeber das Vertragsrecht nach dieser Konzeption ausgestaltet hat, um so weniger Raum und Notwendigkeit bleibt für eine mittelbare Einwirkung der Grundrechte auf die richterliche Auslegung und Anwendung des Vertragsrechts im Sinne der klassischen Drittwirkungslehre.