Visuelle Verarbeitung von Gesichtern bei binokularem Wettstreit: Psychophysik und Elektrophysiologie
Zusammenfassung
Experimentelle Darbietung unterschiedlicher Reize für beide Augen führt zum binokularen Wettstreit, einem spontanen, kaum vorhersagbaren Wechsel beider Bilder in der Wahrnehmung des Betrachters. Bis jetzt ist die physiologische Grundlage dieses Phänomens nicht geklärt, kontroverse Theorien nehmen eine Unterdrückung der Information eines der Reize auf verschiedenen Stufen der visuellen Verarbeitung an.
Die vorliegende Arbeit untersuchte die Mechanismen des binokularen Wettstreits unter Verwendung kognitiv anspruchsvoller und emotionaler Reize wie Gesichter. Schematische, nach ihrem emotionalen Ausdruck positive, neutrale oder negative Gesichter sowie als Kontrollreiz eine zufällige Anordnung der Gesichtselemente ("scrambled face") wurden für beide Augen getrennt kurzzeitig lateralisiert neben einem zentralen Fixationspunkt dargeboten. Eine Spiegelkonstruktion diente zur Überlagerung der Bilder beider Augen. In einer Kontrollbedingung war die Anordnung der Reize identisch für beide Augen, wodurch jeweils in eine Hemisphäre das Gesicht, in die andere das "scrambled face" projiziert wurde. Bei Wettstreitdarbietung dagegen war die Anordnung der Reize für das rechte und linke Auge entgegengesetzt und somit wurden in jeder Gesichtsfeldhälfte beide Stimuli überlagert. In einer Wahlpflicht-Reaktionszeitaufgabe gaben 31 junge, gesunde Versuchspersonen an, auf welcher Seite der Reiz gesichtsähnlicher aussah. Gleichzeitig wurde das EEG in 30 Kanälen von der Kopfhaut abgeleitet, offline getrennt nach Reizklassen gemittelt und topographisch analysiert.
Bei Darbietung im binokularen Wettstreit zeigte das Antwortverhalten eine funktionelle Augendominanz, die in keinem Zusammenhang zum Visus oder der Bevorzugung eines Auges stand, und eine Aufteilung der Versuchspersonen in drei Gruppen erlaubte. Darbietung von Halbfeldreizen (Kontrollbedingungen) führte zu Effekten von Gesichtsfeldlokalisation und Geschlecht der Probanden bei den Reaktionszeiten und der Diskriminationsleistung.
Die bei Darbietung im binokularen Wettstreit gefundene funktionelle Augendominanz steht im Gegensatz zu vorausgegangenen Berichten einer "abnormalen Fusion" kurzzeitig dargebotener dichoptischer Stimuli, was durch die andere Art der Antworterfassung mit einer "forced-choice"-Aufgabe begründet sein könnte. Damit sprechen unsere Ergebnisse gegen ein Fehlen des binokularem Wettstreit zugrundeliegenden Mechanismus bei kurzzeitiger Reizpräsentation. Ein Einfluß der Reizbedeutung auf die als dominant erscheinende Wahrnehmung, wie in vorausgehenden Studien nahegelegt, konnte unter diesen Versuchsbedingungen nicht beobachtet werden.
Die elektrophysiologischen Daten ergaben drei in allen Bedingungen ähnliche VEP-Komponenten mit mittleren Latenzen von 85, 160 und 310 ms. Die Latenz, Feldstärke (GFP) und topographische Verteilung (positive und negative Schwerpunkte) dieser Komponenten wurden zwischen den verschiedenen experimentellen Bedingungen und Augendominanzgruppen verglichen.
Darbietung im binokularen Wettstreit führte zu einer Reduktion der GFP aller Komponenten gegenüber den Kontrollbedingungen sowie zu einer Erhöhung der Latenz der frühesten Komponente. Bei der zweiten und dritten Komponente war jeweils die Feldstärke der durch negative Gesichter evozierten Aktivität am höchsten. Die VEP-Topographie wurde ebenfalls durch die emotionale Ausprägung beeinflußt: Bei der ersten Komponente fanden sich hauptsächlich Unterschiede in rechts-links-Richtung, während die elektrischen Schwerpunkte der dritten Komponente sowohl in rechts-links- als auch in anterior-posterior-Richtung beeinflußt wurden. Alle diese topographischen Effekte zeigten ein abweichendes Verhalten der Zentroide für Gesichter negativen emotionalen Ausdrucks.
Unsere Daten zeigen Effekte des emotionalen Ausdrucks von Gesichtern auf Parameter visuell evozierter Potentiale bei spontaner, für die Aufgabe nicht relevanter Verarbeitung. Verglichen mit vorausgegangenen elektrophysiologischen Studien sind diese bereits in früheren Zeitbereichen nachweisbar. Dieses ist im Einklang mit einer weitgehend automatisierten, schnellen Analyse emotional bedeutsamer Information, wie auch schon durch Untersuchungen mit anderen Methoden nahegelegt. Aufgrund der hohen zeitlichen Auflösung des EEG erlauben die vorliegenden Befunde eine bessere zeitlich Einordnung dieser Verarbeitungsprozesse.