Schwere Hypoglykämien bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes mellitus Typ 1: Einfluß auf die körperliche und psychomentale Entwicklung
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem möglichen Einfluß schwerer Hypoglykämien (SH) auf die körperliche und psychomentale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes mellitus. Hierfür wurden insgesamt 66 Probanden im Alter von 6,5 bis 18,3 Jahren untersucht, die in drei Gruppen eingeteilt wurden:
Zusammenfassend ergaben sich aus der hier vorgelegten Untersuchung keine sicheren Hinweise auf einen schädigenden Einfluß schwerer Hypoglykämien auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes mellitus. Es zeigten sich diskrete Auffälligkeiten bezüglich der Motorik und der Oberflächensensibilität. Um diese genauer einordnen und bewerten zu können, sind weitere Studien unter standardisierten Bedingungen notwendig.
Gruppe 1: 22 Kinder mit Diabetes mellitus, die noch nie eine schwere Hypoglykämie hatten (Alter im Median 11,5 Jahre)
Gruppe 2: 25 Kinder mit Diabetes mellitus mit mindestens einer schweren Hypoglykämie in der Vorgeschichte (Alter im Median 13,1 Jahre)
Gruppe 3: 19 gesunde Kinder als Kontrollpersonen (Alter im Median 11,6 Jahre).
Eine schwere Hypoglykämie wurde definiert durch die Notwendigkeit, Hilfe von einer anderen Person in Anspruch zu nehmen. Die Einteilung basierte auf den Angaben der Eltern und Patienten sowie der Auswertung der Krankenakten.
Nach einer ausführlichen Anamnese und Erfassung der Wachstumsdaten wurde jedes Kind neurologisch untersucht. Eine Überprüfung der motorischen Entwicklung erfolgte dann mit dem Hamm-Marburger Körper-Koordinationstest für Kinder (KTK). Als Intelligenztest wurden der HAWIK-R (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder von 6-16 Jahren, revidierte Form) und HAWIE-R (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene und Jugendliche ab 16 Jahren, revidierte Form) durchgeführt.
Die statistische Datenanalyse erfolgte explorativ, da die Probanden nicht zufällig ausgewählt und daher nicht repräsentativ für eine Grundgesamtheit waren. Um mögliche andere Einflußfaktoren auszuschließen, wurden die drei Probandengruppen auf Strukturgleichheit hinsichtlich folgender Variablen überprüft: soziale Schichtzugehörigkeit, frühkindliche Vorschädigung, Body-Mass-Index und sportlicher Trainingszustand.
Die beiden Diabetes-Gruppen unterschieden sich statistisch durch die längere mediane Diabetesdauer der Kinder mit SH (6,92 Jahre gegenüber 5,04 Jahren ohne SH), nicht jedoch hinsichtlich der Stoffwechseleinstellung: HbA1c-Median 7,2 % (ohne SH) bzw. 7,7 % (mit SH). Mit sinkendem HbA1c stieg die Anzahl leichter Hypoglykämien pro Woche. Bezüglich der Wahrnehmungsfähigkeit für Hypoglykämien (nach eigenen Angaben der Kinder) fand sich kein Unterschied zwischen der Gruppe ohne und mit schwerer Hypoglykämie.
Die auxologischen Daten des untersuchten Kollektivs zeigten eine etwas geringere Körperlänge der Kinder mit Diabetes (Median -0,04 SD) verglichen mit der Kontrollgruppe (Median 0,33 SD) sowie eine Tendenz zur Übergewichtigkeit der Diabetiker, insbesondere in der Gruppe mit schwerer Hypoglykämie (medianer logarithmierter Body-Mass-Index: ohne SH 0,73 SD, mit SH 1,08 SD, Kontrollkinder 0,68 SD). Die allgemeine Anamnese ergab, daß die Kinder mit Diabetes seltener voll gestillt worden waren (25 % der Kinder) als die Kinder der Kontrollgruppe (63 %) (Odds Ratio: 5,14).
Im Rahmen der neurologischen Untersuchung wurde die Oberflächensensibilität überprüft, indem die Kinder mit geschlossenen Augen Ziffern erkennen sollten, die ihnen mit der Fingerspitze auf die Haut geschrieben wurden. Die Kinder mit Diabetes hatten hierbei mehr Probleme als die Kontrollkinder, und innerhalb der Diabetesgruppe schnitten diejenigen mit schwerer Hypoglykämie schlechter ab als diejenigen ohne schwere Hypoglykämie. Mit "schlecht" bewertet wurden 5 % der Kontrollkinder, 15 % der Diabetiker ohne SH und 29 % der Diabetiker mit SH. Statistisch war ein Unterschied nicht sicher nachweisbar. Eine verallgemeinernde Schlußfolgerung aus der Beobachtung ist aufgrund der nicht standardisierten Untersuchungsmethode und der fehlenden Objektivierbarkeit der Ergebnisse mit den vorliegenden Daten nicht möglich.
Bei der neurologischen Untersuchung fielen außerdem altersabhängige physiologische "assoziierte Reaktionen" auf, die auch in der Literatur beschrieben werden und nicht in Zusammenhang mit Diabetes mellitus oder schweren Hypoglykämien stehen.
Die Ergebnisse des Körperkoordinationstests für Kinder (KTK) werden als Motorikquotient (MQ) ausgedrückt. Dieser lag im Median für alle drei untersuchten Gruppen im Normbereich ohne statistisch nachweisbare Gruppenunterschiede. Es fand sich jedoch ein etwas niedrigerer MQ bei den Kindern mit schwerer Hypoglykämie. Um einen Hinweis auf mögliche diskrete motorische Defizite der Kinder ableiten zu können, sind weitere ausführliche Untersuchungen an einem größeren Patientenkollektiv erforderlich.
Die Leistungen im Intelligenztest lagen ebenfalls bei allen drei Gruppen im Normbereich. Es wurden der Gesamt-, Verbal- und Handlungs-Intelligenzquotient bestimmt. Anhaltspunkte für Beeinträchtigungen durch schwere Hypoglykämien oder Diabetes mellitus fanden sich nicht.