Justus-Liebig-Universität Gießen
Fachbereich Gesellschaftswissenschaften
Institut für Politikwissenschaft

Wintersemester 1998/99 (Abgabe 21.12.1998)

Achim Kreis

2. Studienarbeit für das Hauptfach Politikwissenschaft

BÜRGERBETEILIGUNG IN HESSEN - EIN MITTEL GEGEN POLITIKVERDROSSENHEIT?

Eine Bestandsaufnahme unter Berücksichtigung der Positionen der im Landtag vertretenen Parteien im August 1998 und ein Ausblick

Referent: Prof. Dr. F. Neumann



 
Inhaltsübersicht
1. Vorwort
2. Geschichte und Hintergründe der Bürgerbeteiligung
   2.1. Bürgerbeteiligung auf Bundesebene
   2.2. Bürgerbeteiligung auf Landesebene
      2.2.1. Die alten Bundesländer
      2.2.2. Die neuen Bundesländer
      2.2.3. Die Positionen der Parteien
   2.3. Kommunale direkte Demokratie
      2.3.1. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in den Ländern
      2.3.2. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Hessen
   2.4. Zusammenfassung 
3. Hessen: 3 Beispiele für Bürgerbegehren 
   3.1. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in der Praxis
   3.2. Schauenburg: gegen Golfplatz
   3.3. Kelkheim/Taunus: gegen Golfplatz
   3.4. Freigericht: gegen innerörtliche Umgehungsstraße 
4. Positionen der Parteien vor der Landtagswahl 1999 in Hessen 
   4.1. SPD 
   4.2. CDU
   4.3. Bündnis 90/Die Grünen
   4.4. F.D.P.
5. Fazit: Perspektiven der Bürgerbeteiligung
6. Anhang 

1. Vorwort

Bürgerbeteiligung erfährt gerade seit der friedlichen Revolution 1989 wieder (nach den Jahren der sogenannten "partizipativen Revolution" um 1968) eine Revitalisierung. Während der Staatsaufbau der Bundesrepublik nur spärliche Ornamente bürgerschaftlicher Mitwirkung kennt und die Auslegung des Grundgesetzes (GG) in den ersten 40 Jahren seines Bestehens zumindest von den dominierenden Stimmen so gehandhabt wurde, daß Wahlen der Königsweg und auch der von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes gewollte Anteil der Mitwirkung seien, kommt mehr und mehr der Standpunkt zum tragen, Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes lasse auch andere Formen der Bürgerbeteiligung zu, da neben Wahlen eben auch Abstimmungen der Ausübung der Staatsgewalt dienen können.1 Die Gegner direktdemokratischer Entscheidungsformen erklären, die fehlende Ausgestaltung von Abstimmungen nach Art. 20 Abs. 2 GG sei vom Parlamentarischen Rat nicht offengelassen, sondern bewußt nicht gestaltet worden. Gerade auf Bundesebene stehe die Stabilität des Staates und seiner Organe, vor allem der Bundesregierung, im Vordergrund, und die Verfahrensstruktur parlamentarischer Gesetzgebung sei durch "eine Vielfalt gewaltenverschränkender und kooperativer Mitwirkungsakte der verschiedenen staatlichen Institutionen, die ein hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit und Richtigkeitsgewähr verbürgen"2, geprägt. "Insbesondere stellt die Pflicht zur Kooperation im Rahmen der Mitwirkung der Bundesländer an der Gesetzgebung des Bundes im Bundesrat ein wesentliches Element der Gewaltenverschränkung und Kompromißfindung dar. (...) Demgegenüber sind die Verfahrensgestaltungen direktdemokratischer Sachentscheidungsrechte zwar übersichtlicher ausgestaltet, sie lassen jedoch bereits vom gedank-lichen Ansatz die Möglichkeit der Kompromißbildung oder der sachverständigen Beratung nicht zu."3
Die Befürworter erweiterter Mitwirkungsmöglichkeiten dagegen meinen, durch mehr Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ließe sich der allgemein als zunehmend empfundenen Politik- und Parteienverdrossenheit sowie der Instrumentalisierung der Staatsgewalt durch Parteien und Interessenverbände entgegenwirken und das Legitimationsdefizit des repräsentativen Systems verringern. Auch für einen grundlegenden Politikwechsel, wie er im Blick auf die Bundestagswahl 1998 von den Oppositionsparteien eingefordert wurde, wird die Verstärkung der Bürgerbeteiligung herangezogen. Herbert Klemisch meint beispielsweise: "Für eine sozial und ökologisch ausgerichtete Kommunalpolitik ist eine deutlich verstärkte Bürgerbeteiligung als demokratisches Grundelement unverzichtbar."4 Seifert kritisiert die Ablösung der Politik "von den unmittelbaren Lebensverhältnissen, obwohl sie mehr denn je in diese eingreift. Immer mehr Menschen begehren auf gegen das technokratische Denken und diese Form veralteter Politik. Sofern die Bürger nicht mit der Politik ihre Karriere verbinden oder sich resigniert auf das Private zurückziehen, wollen sie widersprechen und real Einfluß nehmen können. Wir brauchen neue Formen der Mitwirkung und neue Mitwirkungsrechte."5 Seifert nennt im folgenden drei mögliche Verbesserungen:

Diese Diskussion über die Verstärkung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger ist also schon einige Jahre alt; das zeigt auch die Entstehungsgeschichte der unterschiedlichen Initiativen, die sich dafür einsetzen.

Inzwischen sind in nahezu allen Bundesländern zumindest auf kommunaler Ebene Mitwirkungsrechte wie z.B. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid eingeführt (und mehr oder weniger durchführbar, das heißt: die Diskussion in den Ländern dreht sich oftmals nur um die Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte). Auf Kreis-, Landesoder gar Bundesebene dagegen sind die Vorbehalte gegenüber "Eingriffen" der Bürger in das politische Geschäft noch wesentlich stärker, weshalb Mahrenholz beispielhaft fordert, das Thema der direkten Demokratie sollte nicht mehr zur Ruhe kommen.8 Als Beispiel führt er Bayern an: "In Bayern ist die Regelung von Materien höchsten Ranges durch Volksentscheid angestoßen oder durch Volksentscheid entschieden worden (z.B. Schule, Rundfunk, Abfallbeseitigung, kommunale direkte Demokratie). Bayern bietet aber auch darüber hinaus wichtigen Anschauungsunterricht: Es hat sich gezeigt, wie wenig die politische Stabilität eines durch Jahrzehnte mit absoluter Mehrheit der CSU regierten Landes darunter gelitten hat, daß das Volk zuweilen eigenen, nicht CSU-konformen, Willen gezeigt und durchgesetzt hat. Mir scheint, daß die konservative Verfassungstheorie diese Tatsache noch gar nicht bemerkt hat."9
Es ist also ein allgemeiner Trend zu mehr Bürgerbeteiligung festzustellen, allerdings vorwiegend auf kommunaler Ebene. Schnetz fragt nun nach, warum direkte Demokratie auf den unteren Ebenen toleriert wird, aber auf Landesebene kaum und gar nicht auf Bundesebene: "Die Erklärung lautet im Klartext: weil die Bürger dort weniger verderben können. Weil es "nur" um lokale Entscheidungen geht, weil die Bürger hier direkter betroffen und leidlich kompetent sind."10 Auch er fordert neben der Bürgerbeteiligung auf lokaler Ebene die Beteiligung an der Gesetzgebung.

Mit dieser Arbeit wird zunächst ein Blick auf die Geschichte der Bürgerbeteiligung und die Regelungen in den Ländern dem Stand in Hessen gegenübergestellt.
Die gesetzlichen Vorgaben für Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene werden im folgenden für Hessen, ebenfalls mit einem Seitenblick auf andere Bundesländer, dargestellt und im besonderen für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als herausragende (weil gestaltende) Elemente näher aufgezeigt (Kapitel 2).
Im nächsten Schritt sollen die bisherige Nutzung der Instrumente Bürgerbegehren und Bürgerentscheid aufgezeigt und drei Beispiele von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Hessen näher untersucht werden: Wie intensiv arbeiten die Initiatoren und die Gegner an ihrer Sache, wer beteiligt sich, wie ist die Abstimmungsbeteiligung und wie wird, je nach Ergebnis, die Initiative abschließend bewertet, sind hier die Fragestellungen (Kapitel 3).
Im nächsten Schritt werden die Positionen der im hessischen Landtag vertretenen Parteien vor der Landtagswahl im Februar 1999 zum Thema "Bürgerbeteiligung" gegenübergestellt (Kapitel 4).
Ziel ist eine Momentaufnahme der gesellschaftlichen Entwicklung in Bezug auf direktdemokratische Mitwirkungsmöglichkeiten und der Vergleich mit den Einschätzungen der Parteienvertreter in Hessen sowie ein Ausblick für Hessen (Kapitel 5).

Anfang     Inhalt     Kap.1     Kap.2     Kap.3     Kap.4     Kap.5     Anhang

2. Geschichte und Hintergründe der Bürgerbeteiligung

2.1. Bürgerbeteiligung auf Bundesebene

Die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ist die Verfassung, hier also das - mehrfach geänderte - Grundgesetz vom 23. Mai 1949. Es gibt die Grundzüge des Staates vor. Darüber hinaus haben auch die Bundesländer ihre je eigene Landesverfassung. Die nächste (niedrigere) Stufe der Rechtsnormen der Bundesrepublik sind die einfachen Gesetze, die in den Bundesländern beispielsweise die Kommunalordnungen darstellen. Alle Gesetze sind in eine Normenhierarchie eingebunden, so daß eine ranghöhere Norm die rangniedere verdrängt. Die Länder können in vielen Bereichen eigene Gesetze erlassen, sie können aber keine dem Grundgesetz widersprechenden Gesetze beschließen bzw. diese hätten keinen Bestand. Dieser Hierarchie folgend soll hier zunächst ein Schlaglicht auf Bürgerbeteiligung auf Bundesebene geworfen und die Regelungen auf Landesebene, anschließend auf kommunaler Ebene vorgestellt werden.

Das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik bestimmt, wie schon einleitend beschrieben, in Art. 20 Abs. 2, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen und die politische Willensbildung des Volkes sich in Wahlen und Abstimmungen vollziehen soll. Es läßt Abstimmungen durch Volksentscheid nur für den Fall einer Neugliederung des Bundesgebietes zu (Art. 29 GG). Sie haben in der Geschichte keine Rolle gespielt und sind daher auf Bundesebene faktisch bedeutungslos.
"Die Ausübung der Staatsgewalt bleibt besonderen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung vorbehalten (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Das Grundgesetz hat sich also nicht für die unmittelbare Demokratie plebiszitären oder rätedemokratischen Zuschnitts, sondern für die repräsentative, parlamentarische Demokratie entschieden. (...) Doch ist unverkennbar, daß die Forderung nach Einfügung plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz heutzutage zunehmend Widerhall findet."11  Eine prinzipielle Festlegung gegen direkte Demokratie enthält Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG jedenfalls nicht. Dennoch hat auch die breitere Diskussion des Themas nach der friedlichen Revolution 1989 in der damaligen DDR, nach der die Bürgerinnen und Bürger sich wieder mehr im Mittelpunkt des Staates sahen ("Wir sind das Volk"), und die Beratung in der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht zur dort erforderlichen Zweidrittelmehrheit für die Einführung direktdemokratischer Elemente in die Verfassung geführt.

2.2. Bürgerbeteiligung auf Landesebene

2.2.1. Die alten Bundesländer

"Bund und Ländern sind rechtsbegrifflich in gleicher Weise ursprüngliche Staatlichkeit, staatliche Rechtspersönlichkeit und staatliche Hoheitsgewalt nach Maßgabe der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eigen."12 Die staatlichen Teilordnungen im Bundesstaat der Bundesrepublik beruhen auf einem Verfassungskonsens, der im Grundgesetz durch inhaltliche und verfahrensrechtliche Regelungen zur Verfassungshomogenität von Bund und Ländern gewährleistet wird. Grundgesetz und Landesverfassungen können denselben gesellschaftlichen Vorgang regeln, wobei die Landesverfassungen dem Grundgesetz nachgeordnetes Recht darstellen. Dennoch besitzen der Gesamtstaat und auch die Gliedstaaten Staatsqualität. Dies kann sich z.B. darin äußern, daß die Gliedstaaten in ihren Verfassungen jeweils unterschiedlich und anders als das Grundgesetz regeln, wie Verfassungsgebung und Verfassungsänderung oder Gesetzgebung zu geschehen habe.
Die Bayerische Verfassung von 1946 enthielt gegenüber der Bamberger Verfassung des Freistaates Bayern vom 14. August 1919 (die schon eine Reihe von Regelungen direkter Demokratie enthielt) die Neuerung, daß sie durch Volksabstimmung in Kraft gesetzt wurde, auch war ein Verfassungsreferendum obligatorisch. Das Volk kann seither an der Gesetzgebung mitwirken und den Landtag abberufen. Von den gegebenen Möglichkeiten wurde bisher im Vergleich zu anderen Bundesländern rege Gebrauch gemacht, und wenngleich erst eine Gesetzesinitiative des Volkes die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielt, ist doch die Wirkung dieser Initiativen nicht zu vernachlässigen: Oftmals wurde der Landtag veranlaßt, die Volksinitiativen mit eigenen Gesetzentwürfen aufzugreifen, die letztendlich eine Mehrheit fanden.
In den meisten "alten Bundesländern" eröffnet die Verfassung die Möglichkeit der Gesetzgebung durch das Volk, allerdings wurde dies bisher in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich häufig genutzt. Zum Teil liegt dies sicher an den unterschiedlichen Zulassungsvoraussetzungen: das Quorum für Volksbegehren ist in Bayern mit einem Zehntel der Stimmberechtigten vergleichsweise niedrig 13, noch niedriger mit 5% in Schleswig-Holstein14; es beträgt in Baden-Württemberg ein Sechstel15und in Hessen, Rheinland-Pfalz16, Nordrhein-Westfalen17, dem Saarland18 und Bremen19 ein Fünftel.

Die Möglichkeit, Volksbegehren auf Verfassungsänderung zu initiieren, gibt es in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen und Rheinland-Pfalz. Die übrigen Länder lassen entweder überhaupt kein gesetzesinitiierendes Volksbegehren zu oder sie erstrecken dieses nicht auf das demgegenüber speziell geregelte Verfahren der Verfassungsänderung.
Für Verfassungsänderungen ist in Bayern und Hessen (und nur in diesen beiden Ländern) ein obligatorisches Verfassungsreferendum vorgesehen. Dies bedeutet, Verfassungsänderungen können in Bayern durch das Volk oder durch den Landtag eingeleitet werden, in Hessen nur durch den Landtag. Sie müssen in beiden Ländern aber von diesem mit Mehrheit (in Bayern 2/3-Mehrheit, in Hessen Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Landtages)20 bestätigt werden.
Einige Bundesländer kennen noch die Möglichkeit eines fakultativen Verfassungsreferendums: Kommt beispielsweise in Nordrhein-Westfalen (im Landtag) keine Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung zustande, so kann nach Art. 69 Abs. 2 VerfNW der Landtag (durch einfachen Mehrheitsbeschluß) oder die Landesregierung sie dem Referendum unterbreiten; dort ist dann die Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. Auch die Möglichkeit des Referendums über Gesetzentwürfe ist in einigen Bundesländern geregelt: "Die in einzelnen Landesverfassungen vorgesehenen Verfahren eines fakultativen Gesetzesreferendums binden in differenzierter Weise das Volk in das Verfassungsgefüge der wechselseitigen Einflußnahme, der wechselseitigen Kontrolle und Abhängigkeiten und des wechselseitigen Ausgleichs der Staatsorgane ein. So hat in Nordrhein-Westfalen nach Art. 68 Abs. 3 VerfNW die Landesregierung die Möglichkeit, sich gleichsam am Parlament vorbei an das Volk zu wenden, um einen von ihr eingebrachten und im Landtag abgelehnten Gesetzentwurf zum Volksentscheid zu bringen. Das Verfahren ist riskant: Wird der Gesetzentwurf auch im Volksentscheid abgelehnt, muß die Regierung zurücktreten während sie bei Annahme des Entwurfs ihrerseits den Landtag auflösen kann. Es ist dies eine Art von plebiszitärer Vertrauensfrage; bei Konflikten zwischen Parlament und Regierung, die zur Regierungsunfähigkeit führen, soll das Volk als der Souverän entscheiden."21 In Rheinland-Pfalz kann eine Minderheit von einem Drittel des Landtags die Aussetzung der Verkündung eines bereits beschlossenen Gesetzes um zwei Monate verlangen, auf Verlangen von 5 % der Stimmberechtigten findet dann ein Volksentscheid statt (Art. 114 Satz 1 und 115 Rh.-PfVerf.).

In Hessen22 wird das Volk zwar bei Verfassungsänderungen zwingend befragt, ein Initiativrecht besitzt es dagegen nicht. Die Gesetzgebung dagegen kann auch vom Volk mittels Volksbegehren initiiert werden, dafür müssen aber 20% der Stimmberechtigten eintreten (rund 860.000 Unterstützer). In der Volksabstimmung entscheidet dann die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

2.2.2. Die neuen Bundesländer

In den neuen Bundesländern, die seit 1990, nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, der Bundesrepublik zugehören, wurde die Diskussion über die Landesverfassungen (so Klages/Paulus) "geprägt von dem Anspruch, die Identität der DDR-Bürger und ihr neu gewonnenes Selbstverständnis in die Verfassungen einzubringen. Zwei Themen traten dabei schwerpunktmäßig in den Vordergrund der Verfassungsdiskussion: die Berücksichtigung von sozialen Grundrechten und Staatszielbestimmungen sowie die verstärkte Teilhabe des Volkes an der politischen Willensbildung. Insbesondere die Forderung nach der Verankerung von Rechten politischer Mitbestimmung und die Aufnahme direktdemokratischer Elemente kann als "Erbe" der Bürgerbewegung des Herbstes 1989 und "Ausdruck der besonderen Befindlichkeit der Bürger in den neuen Ländern" angesehen werden."23
Alle neuen Länder bis auf Thüringen haben in ihre Verfassungen Volks-initiativen aufgenommen. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wurde das selbständige Instrument der Volksinitiative einerseits (ohne Beschluß- oder Befassungspflicht und insofern nur mit der Funktion, neue Ideen in die Parlamente zu bringen) eingerichtet, daneben gibt es die Möglichkeit des Volksbegehrens mit anschließendem Volksentscheid (zweistu- figes Verfahren). Brandenburg und Sachsen dagegen sehen eine dreistufige Regelung vor: Die Volksinitiative (in Sachsen: Volksantrag) mit geringem Quorum steht als obligatorische Vorstufe vor Volksbegehren und Volksentscheid und bildet somit einen "ersten Relevanztest für ein bürgerinitiiertes Anliegen."24 In Thüringen sind nur Volksbegehren und Volksentscheid vorgesehen, daneben wurde ein Bürgerantrag außerhalb der Regelungen der Gesetzgebung eingeführt, der mit einem hohen Quorum25, gleichzeitig aber ohne Befassungs- oder Beschlußpflicht des Landtages verbunden ist. Alle neuen Bundesländer geben also dem Volk die Möglichkeit, mittels Volksbegehren und Volksentscheid (in Brandenburg und Sachsen mit vorgeschalteter Volksinitiative bzw. Volksantrag) Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben, auch Verfassungsänderungen sind möglich. Wie traditionell in den alten Bundesländern sind auch in den neuen Bundesländern bestimmte Gegenstände dem Volksentscheid nicht zugänglich, vor allem betrifft dies Finanzangelegenheiten. Die Quoren dagegen liegen deutlich unter dem westdeutschen Durchschnitt: für die Volksinitiative werden zwischen 1% und 1,6% (außer Thüringen, siehe Fußn. 25), für Volksbegehren zwischen 4% und 14% gefordert. Volksentscheide sind angenommen, wenn (wie in den westlichen Ländern) mindestens 1/4 der Stimmberechtigten zustimmen (in Meck.-Vorp. und Thüringen 1/3, in Sachsen die Mehrheit der Abstimmenden). Für Verfassungsänderungen ist in Sachsen und Thüringen die Mehrheit der Stimmberechtigten nötig, in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt eine 2/3-Mehrheit und zusätzlich die Hälfte der Stimmberechtigten. Ein obligatorisches Referendum ist nicht vorgesehen.
Eine nähere Betrachtung findet sich bei Klages 1996 mit der Schlußfolgerung: "Die bisherige Nutzung von Volksinitiativen undbegehren in den ostdeutschen Ländern zeigt, daß ein Bedarf an direktdemokratischer Bürgerbeteiligung besteht und daß die angebotenen Partizipationsmöglichkeiten aufgegriffen werden. Die Volksinitiative scheint sich als ein in der Praxis funktionsfähiges Verfahren zu erweisen. Dagegen deuten die bisherigen Erfahrungen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen darauf hin, daß die Quoren für Volksbegehren größere Hürden darstellen, die kaum überwunden werden können."26

2.2.3. Die Positionen der Parteien

An dieser Stelle sollen die Positionen der Parteien, wie sie Klages (1996) für die Verfassungsdiskussion zur Zeit der Einigung Deutschlands herausarbeitet, kurz dargestellt werden, um später Kontinuitäten oder auch Diskontinuitäten herausarbeiten zu können.
Die CDU/CSU erkennt eine grundsätzliche Vereinbarkeit von repräsentativer und unmittelbarer Demokratie zwar an, politisch zielt sie aber auf den Erhalt der repräsentativen Demokratie. Zwar vertritt die CDU auf Landes- und Kommunalebene gelegentlich andere Positionen und fordert vereinzelt auch in ihren Wahlprogrammen Volksbegehren, insgesamt jedoch steht die CDU in strikter Gegnerschaft zur Erweiterung direktdemokratischer Rechte: "Beide Unionsparteien lehnen unmittelbare Entscheidungsverfahren auf Bundesebene ab. Im Bundestag sprachen sich 1988/89 entsprechend der programmatischen Aussagen rund 80% der CDU/CSU-Abgeordneten gegen Volksentscheide aus, allerdings hielten immerhin knapp ein Fünftel der Abgeordneten diese für sinnvoll."27

Innerhalb der SPD gibt es mehr Fürsprecher für die Beteiligung der Bürger, was sich im Programmentwurf von 1989 ausdrückt, der Volksbegehren und Volksentscheid als Ergänzung des parlamentarischen Systems nennt. Allerdings gibt es in der SPD auch reichlich Gegner der Bürgergeteiligung, so daß im Programm letztlich die Formulierung beschlossen wurde: "In gesetzlich festzulegenden Grenzen sollen Volksbegehren und Volksentscheid in Gemeinden, Ländern und Bund parlamentarische Entscheidungen ergänzen. Die verfassungsrechtlichen Beschränkungen der Mehrheitsmacht gelten auch für die direkte Bürgerbeteiligung."28 Auch gegen diese Formulierung gab es starken Widerstand innerhalb der SPD. "Die innerparteiliche Auseinandersetzung wurde auch in der Fraktion des Bundestages abgebildet: 1988/89 waren 48% zu den Gegnern des Volksentscheids auf Bundes- ebene zu zählen."29

Bei Bündnis 90/Die Grünen zählt die Forderung nach erweiterter Mitbestimmung und umfassender Bürgerbeteiligung seit der Parteigründung 1980 zu den festen Bestandteilen nicht nur der Programme, sie wurde auch in parlamentarischen ebenso wie außerparlamentarischen Initiativen immer wieder auf die Tagesordnung gehoben. "Es war daher konsequent, daß die Grünen-Fraktion in der Umfrage während der elften Legislaturperiode geschlossen für Volksentscheide stimmte und als einzige parteipolitische Gruppierung einen Gesetzentwurf vorlegte, der ein dreistufiges Verfahren mit Volksinitiative,begehren und -entscheid vorsah."30

Für die FDP stellen Klages/Paulus einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis fest: Während die Programme z.B. von 1980 und das Liberale Manifest von 1985 Aussagen zugunsten von Volksbegehren und Volksentscheid enthalten, setzten sich die Abgeordneten nicht für die Realisierung ihrer Forderungen ein. "Dieser Unterschied findet sich auch in den Haltungen der Bundestagsabgeordneten wieder, von denen sich trotz der relativ klaren programmatischen Aussagen nur etwas mehr als ein Drittel für Volksentscheide aussprachen."31

Die PDS/LL legte im Februar ihr erstes Programm vor, in dem gefordert wurde, Fragen von existentieller Bedeutung für das Volk durch Volksabstimmung zu entscheiden, weitergehende Vorschläge wurden zunächst nicht vorgelegt.

Die ersten frei gewählten Volkskammerabgeordneten der DDR stimmten zwar von den parteipolitischen Präferenzen im wesentlichen mit den Bundestagsabgeordneten überein, dennoch standen sie "der Einführung von Volksentscheiden insgesamt sehr viel positiver gegenüber als die Mitglieder des Bundestages."32 Im Gegensatz zum Bundestag mit 40% sprachen sich die Befragten zu 71% für Volksentscheide aufgrund von Volksbegehren aus.

"Keine der dargestellten Parteien schließt unmittelbare Beteiligungsformen als Ergänzung der repräsentativen Demokratie grundsätzlich aus. In den Programmen von FDP, SPD, Bündnis 90/Grüne und PDS sind entsprechende Forderungen ausdrücklich enthalten. In ihrer praktischen Politik haben sich CDU/CSU und FDP gegen die Institutionalisierung direktdemokratischer Verfahren ausgesprochen. Die SPD verhielt sich bis zum Beginn der achtziger Jahre relativ indifferent gegenüber dieser Problematik."33 Allerdings wird das Thema auch innerhalb der Parteien verschieden gehandhabt, je nachdem, ob man sich auf der Regierungs- oder der Oppositionsbank befindet.

2.3. Kommunale direkte Demokratie

Die Krise des absolutistischen preußischen Beamtenstaates war der Ausgangspunkt für die Überlegungen des Freiherrn vom Stein, die in der Preußischen Städteordnung von 1808 mündeten und die darauf aufbauten, daß "die Gesellschaft selbst, die Bürgerschaft, durch effektive Mitarbeit in Beschlußfassung und Vollzug Anteil an der Verwaltung erhielt."34 Hier wurden erste Schritte zur Kommunalen Selbstverwaltung und letztlich zur Bürgerbeteiligung gegangen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden, zuerst in Süddeutschland, einige weitere Ansätze unmittelbarer Demokratie verwirklicht: direkte Bürgermeisterwahl, Gemeindeversammlung und Initiativrechte, vor allem in kleinen Gemeinden, seien genannt. Wirklich ausgebaut wurden direktdemokratische Elemente erst in der Weimarer Republik, vor allem auf kommunaler Ebene. Gemeindebegehren wurden beispielsweise in Thüringen und Sachsen eingeführt, neben der direkten Wahl der Gemeindevertretung regelten einzelne Länder auch die Abberufung derselben auf Initiative der Bürger, auch die Bürgermeister-Direktwahl gehörte zum Repertoire. Die Nationalsozialisten machten die bisherigen Schritte wieder rückgängig: Mit der kommunalen Selbstverwaltung wurde auch jede Art der direktdemokratischen Einflußnahme beseitigt. In der DDR wurde direkter Demokratie kein breiterer Raum gegeben. In der entstehenden Bundesrepublik dagegen wurde der Selbstverwaltung der Kommunen und dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben ein hohes Gewicht eingeräumt. Vor allem in südlichen Bundesländern konnten die Bürgerinnen und Bürger von Beginn an die Bürgermeister direkt wählen, in Baden-Württemberg seit 1955 auch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid über wichtige Gemeindeangelegenheiten einleiten. Die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte wurden seither in allen Bundesländern erweitert, wobei ein Nord-Süd-Gefälle aber noch bis in die neunziger Jahre festzustellen war. So sind beispielsweise bei der Wahl der Gemeindevertretung bzw. Stadtverordnetenversammlung in Bayern und Baden-Württemberg Kumulieren und Panaschieren35 schon seit vielen Jahren möglich und inzwischen auch in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen eingeführt; in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein dagegen nicht.36

Allgemein kann ein breites Spektrum an Mitwirkungsmöglichkeiten in den Kommunen festgestellt werden. Neben der Beteiligung in den Parlamenten (in der Regel nur über Parteien oder Wählergruppen zu erreichen) werden in der Literatur erwähnt37: Direktwahlen von Bürgermeistern/Landräten, Beiräte, sachkundige Einwohner als Berater in Ausschüssen der Kommunalparlamente, Bürgerversammlung, Öffentlichkeit der Gemeinderats-sitzungen, Bürgerbefragungen, Bürgerantrag, Bürgerinitiativen. Daneben gibt es auch institutionalisierte Beteiligungsformen, beispielsweise bei der Bauleitplanung. Gelegentlich wird mit neueren Instrumenten experimentiert: Anwaltsplanung, Bürgerbeauftragte, Gemeinwesenarbeit, Planungszellen, Zukunftswerkstätten, Mediation. Knemeyer nennt sogar "Bürgerengagement ohne unmittelbares Mit- oder Einwirkungsziel durch eigenständige Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben - Vereine und Selbsthilfegruppen" als Form der Bürgermitwirkung38
Das stärkste Instrument direkter Mitwirkung der Bürger besteht, da es verbindliche Sachentscheidungen hervorbringt, unzweifelhaft in Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Inzwischen liegen in einigen Bundesländern Erfahrungen mit diesen neuen Methoden vor. Die weitere Untersuchung wird sich daher auf Bürgerbegehren und Bürgerentscheid beschränken.

2.3.1. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in den Ländern

Bis 1990 war nur in der Gemeindeordnung Baden-Württembergs das Bürgerbegehren und der Bürgerentscheid vorgesehen. Inzwischen ist dieses Instrument in die Gemeindeordnungen nahezu aller Länder aufgenommen worden, zuletzt und mit der bürgerfreundlichsten Ausgestaltung ab 1.11.95 auch in Bayern. Mit dem Bürgerentscheid werden dem Gemeindevolk eigentliche Entscheidungszuständigkeiten zugestanden, das ist die stärkste Form der Mitwirkung der Bürger in Deutschland. Allerdings werden die Themenbereiche, die dem Bürgerentscheid zugänglich sind, als "wichtige Angelegenheiten" meist durch einen Negativkatalog eingeschränkt: dort ist beispielsweise geregelt, daß über Weisungs- und Pflichtaufgaben, Haushaltssatzung, die Rechtsverhältnisse von Gemeinderäten oder Gemeindebediensteten oder auch Anträge, die ein rechtswidriges Ziel verfolgen, kein Bürgerentscheid stattfinden kann. Auch ein Positivkatalog ist möglich, in dem die wichtigen Angelegenheiten beispielhaft aufgeführt sind, über die Bürgerentscheide stattfinden können.39

Ein Bürgerentscheid kann auf zwei Wegen zustandekommen: durch einen Beschluß des Gemeinderates (Ratsbegehren) oder auf ein erfolgreiches Bürgerbegehren hin. Das Ratsbegehren kann in Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein durch eine 2/3-Mehrheit des Gemeinderates eingeleitet werden, in Mecklenburg-Vorpommern und (unter bestimmten Bedingungen) Brandenburg reicht eine Mehrheit der Stimmen aller Mitglieder der Gemeindevertretung, was Schefold skeptisch beurteilt, da sich dabei parlamentarische Minderheiten mit ihrem (im Parlament aussichtslosen) Anliegen direkt ans Volk wenden könne.40 In Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Thüringen und Hessen sind Ratsbegehren nicht vorgesehen.

Für ein erfolgreiches Bürgerbegehren sind die Regelungen in den Bundesländern ähnlich, es muß schriftlich eingereicht werden und die zu entscheidende Frage (nur mit ja oder nein zu beantworten), eine Begründung und (mit Ausnahme von Bayern) einen Kostendeckungsvorschlag enthalten. Richtet es sich gegen eine Beschluß der Gemeindevertretung, muß es (außer in Bayern) binnen vier bis acht Wochen eingereicht sein. Große Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der weiteren Verfahrenshürden: Das Antragsquorum (Mindestanzahl der Unterschriften des Begehrens) liegt in Bayern bei 3% der Einwohner in Großstädten und ist bis zu 10% in kleinen Gemeinden gestaffelt, in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz 6 - 15 %, in Mecklenburg-Vorpommern 4 - 10%, in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen 5 - 10%, in Brandenburg, Hessen, Schleswig-Holstein, Bremen und Bremerhaven 10%, im Saarland 5 -15%, in Sachsen 15% und in Thüringen 20% der Stimmen der wahlberechtigten Einwohner. Über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens entscheidet in der Regel die Gemeindevertretung, gelegentlich auch die Aufsichtsbehörde. Beschließt die Gemeindevertretung die mit dem Bürgerbegehren geforderte Maßnahme unverändert, entfällt der Bürgerentscheid.
Beim Bürgerentscheid besteht in den meisten Bundesländern eine weitere Verfahrenshürde: In Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bremerhaven, Saarland und Sachsen-Anhalt muß für die Annahme des Vorschlages die Mehrheit der Abstimmenden ihr Votum abgeben, diese Mehrheit muß aber mindestens 30% der Stimmberechtigten betragen. In den übrigen Bundesländern liegt dieses Abstimmungsquorum bei 25%, nur in Bayern wurde es gar nicht erst eingeführt, dort genügt also die Mehrheit der Abstimmenden. Dies hat der BayVerfGH aber als verfassungswidrig eingestuft und eine Neuregelung gefordert.
Ein Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Beschlusses der Gemeindevertretung und kann frühestens nach drei Jahren geändert werden (ein Jahr in Sachsen-Anhalt, 2 Jahre in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen).41

2.3.2. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Hessen

Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind in § 8b der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) geregelt. Die Neuregelung wurde durch das Gesetz zur Änderung kommunalrechtlicher Vorschriften vom 27.05. 1992 (GVBl. I, S. 170) eingeführt. Der erste Versuch zur Reform der HGO wurde 1986 von SPD und Grünen initiiert und kam wegen der bald darauf zerbrochenen rot-grünen Koalition nicht über eine erste Lesung im Landtag hinaus. 1987 bis 1991, in der Zeit der CDU-FDP-Regierung, brachten die Grünen erneut einen Gesetzentwurf ein, der von der SPD unterstützt, von CDU und FDP jedoch abgelehnt wurde. Diese initiierten eine Verfassungsänderung zum Art. 138 HessVerf. zur Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten, was durch Volksentscheid am 20.01.1991 angenommen wurde. Nach der Landtagswahl in Hessen vom Februar 1991 und einer erneuten rot-grünen Landesregierung wurde dann der dritte Anlauf unternommen: SPD und Grüne hatten im Landtagswahlkampf die Einführung kommunaler Bürgerentscheide versprochen und setzten diese nun um. Anfang 1992 wurde der Öffentlichkeit ein Entwurf vorgestellt, der im wesentlichen den Regelungen in Baden-Württemberg entsprach: Das Einleitungsquorum (Zahl der benötigten Unterschriften für den Antrag auf einen Bürgerentscheid) sollte zwischen 6 und 15% liegen und das Zustimmungsquorum bei 30% (d.h. die Mehrheit der Abstimmenden muß dem Bürgerbegehren zustimmen, und diese Mehrheit muß mindestens 30% der Wahlberechtigten betragen). Die Parteien befürworteten die Neuregelung, allerdings wurden Änderungsanträge eingebracht: Die CDU beantragte ein einheitliches Einleitungsquorum von 15% sowie die Erweiterung des Themenausschlusses um den Punkt "Satzungen der Gemeinde". Schließlich brachten SPD und Grüne einen Änderungsantrag ein, nach dem das Einleitungsquorum einheitlich bei 10% und das Zustimmungsquorum bei 25% liegen sollte. Dies wurde am 13.05.92 im Landtag mit der Mehrheit von SPD und Grünen beschlossen. Die CDU sprach sich, ebenso wie die kommunalen Spitzenverbände, für eine Erhöhung der Verfahrenshürden (Quoren) aus, gab aber ihre anfänglich strikt ablehnende Haltung auf. SPD und FDP begrüßten die getroffenen Regelungen, die FDP forderte allerdings, Kumulieren und Panaschieren in die Gemeindeordnung mit aufzunehmen, fand damit jedoch keine Mehrheit im Landtag. Bündnis 90/Die Grünen vertraten die Auffassung, daß der Gesetzgeber für eine echte Chance auf Politikmitgestaltung durch die Bürgerinnen und Bürger die Hürden für direktdemokratische Verfahren nicht zu hoch hängen dürfe. Daher befürworteten sie die beschlossene Regelung, plädierten aber zugleich für eine Senkung des Einleitungsquorums auf fünf Prozent sowie für die Streichung des Zustimmungsquorums.

Am 1.4.93 trat die Regelung zu kommunalen Bürgerentscheiden, der reformierte õ 8b der Hessischen Gemeindeordnung (HGO), in Kraft42. Demnach wurde in Hessen eine zweistufige Regelung gewählt: "In der ersten Stufe, dem Bürgerbegehren, wird ein Antrag auf einen Bürgerentscheid gestellt. Dazu müssen Unterschriften von mindestens zehn Prozent der wahlberechtigten Einwohner einer Gemeinde gesammelt werden (Unterschriftenoder Einleitungsquorum). Richtet sich das Begehren gegen einen Beschluß der Gemeindevertretung (sogen. "Korrekturbegehren"), müssen die Unterschriften sechs Wochen nach Bekanntgabe dieses Beschlusses eingereicht werden. Der ,Negativkatalog" schließt Themen von vornherein vom Bürgerbegehren aus: Unzulässig sind z.B. Fragen der inneren Organisation der Gemeinde, die Haushaltssatzung, Gemeindeabgaben oder Finanzfragen der gemeindeeigenen Betriebe. Das Begehren muß bestimmte formale Bedingungen erfüllen: Neben der schriftlichen Einreichung muß es die zu entscheidende Frage, eine Begründung, einen Kostendeckungsvorschlag (bei kostenverursachenden Maßnahmen) sowie die Benennung von bis zu drei Vertrauenspersonen enthalten.

Ein Bürgerentscheid findet statt, wenn die Gemeindevertretung die geforderten Maßnahmen nicht selbst beschließt und das Begehren rechtlich für zulässig erklärt. Ein Entscheid ist erfolgreich im Sinne des Begehrens, wenn die Mehrheit der Abstimmenden und zugleich mindestens 25 Prozent der Stimmberechtigten im Sinne des Begehrens entscheiden (,Zustimmungsquorum" ). Wird das 25-Prozent-Quorum nicht erreicht, entscheidet die Gemeindevertretung abschließend."43
Anzumerken ist noch, daß der Gesetzgeber sich bei der Neufassung in Hessen (wie auch in Rheinland-Pfalz und Thüringen) nicht dazu durchringen konnte, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auch auf Landkreis-ebene einzuführen, was dagegen in Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein durch Reformen seit 1990 geschehen ist.

2.4. Zusammenfassung

Auf Bundesebene sind dem Volk kaum Mitbestimmungs- bzw. Mitwirkungsrechte eingeräumt. Das Grundgesetz bestimmt allgemein, daß die Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen zu erfolgen habe (Art. 20 Abs. 2 GG), lediglich eine Neugliederung des Bundesgebietes bedarf der Zustimmung des Volkes (Art. 29 Abs. 2 GG).

Auf Landesebene sind in Hessen weniger direktdemokratische Elemente verankert als beispielsweise in den neuen Ländern. Zwar sind Verfassungsänderungen zwingend an das Votum des Volkes gebunden, doch ergibt sich hier für das Volk selbst kein Gestaltungsspielraum - es kann nur zustimmen oder ablehnen. Allerdings ist für Verfassungsänderungen nur die einfache Mehrheit der Stimmen der Landtagsabgeordneten sowie die Mehrheit der Abstimmenden beim Volksentscheid erforderlich.
Mit einem Quorum für das Volksbegehren von einem Fünftel der Stimmberechtigten ist die Meßlatte für die Volksgesetzgebung hoch gehängt. Eine Volksinitiative, mit der Minderheiten den Landtag auf ihr Anliegen aufmerksam machen oder gesellschaftliche Gruppen neue Ideen einbringen könnten, gibt es in Hessen nicht.

In den Gemeindeordnungen der Länder haben Bürgerbegehren und Bürgerentscheid inzwischen flächendeckend Einzug gehalten, einzig die Ausgestaltung ist umstritten. Das einfachste Verfahren hat sich Bayern gegeben, dort wurde es auf ein Volksbegehren hin eingeführt. Die im Volksbe-gehren geforderten Regelungen wurden im Landtag von der CSU-Mehrheit abgelehnt, SPD und Bündnis 90/Die Grünen stimmten zu44. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern beinhaltet es ein sehr niedriges Einleitungsquorum des Bürgerbegehrens (3% in Großstädten, gestaffelt nach Einwohnerzahlen bis zu 10% in kleineren Gemeinden, Art. 18a (6) BayGO), kein Abstimmungsquorum für den Bürgerentscheid (Art. 18a (12) BayGo), sowie eine besondere Sperrwirkung nach Abgabe von einem Drittel der in Absatz 6 geforderten Unterschriften (Art. 18a (8) BayGO). Allerdings hat das Bayerische Verfassungsgericht am 29.8.97 entschieden: "Der Verzicht des Gesetzgebers auf ein Beteiligungs- oder Zustimmungsquorum beim Bürgerentscheid (...) führt im Zusammenhang mit der Bindungswirkung von drei Jahren (...) zu einer verfassungswidrigen Beeinträchtigung des Kernbereichs der Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, insoweit eine verfassungsmäßige Neuregelung zu schaffen."45 Im Vergleich zu anderen Bundesländern wird in Bayern das Instrument Bürgerbegehren und Bürgerentscheid häufig genutzt, Knemeyer schätzt die Zahl der Verfahren für den Zeitraum von der Einführung (Okt. 1995) bis Juli 1997 auf erheblich über 500, allerdings werden nicht alle angekündigten Unterschriftensammlungen auch eingereicht. Zudem werden alle Verfahren einzeln gezählt, auch wenn zum Bürgerbegehren ein alternativer Vorschlag des Gemeinderates kommt.
Hessen liegt mit den Regelungen zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheid im "Mittelfeld" der Länder: die Verfahrenshürden sind durchschnittlich hoch angesetzt. Eine Staffelung des Einleitungsquorums nach Gemeindegröße gibt es in Hessen nicht, aber der Themenausschlußkatalog ist eher schmal gehalten.

Für die Parteien ist festzuhalten, was schon unter 2.2.4 aufgezeigt wurde: CDU/CSU wenden sich strikt gegen die Einführung direktdemokratischer Elemente, die SPD variiert hier je nach Regierungsbeteiligung, Bündnis 90/Die Grünen setzen sich für die Bürgerbeteiligung mit niedrigen Schwellen ein, die FDP schwankt: in Hessen befürwortete sie den Gesetzentwurf und forderte sogar als zusätzliche Instrumente die Einführung von Kumulieren und Panaschieren bei Kommunalwahlen.
Aber: auf der kommunalen Ebene nutzen auch alle Parteien Bürgerbegehren und Bürgerentscheid bzw. zählen zu den Initiatoren, wenn auch nicht in der Mehrheit der Fälle.46
Die kommunalen Spitzenverbände (Städtetag, Städte- und Gemeindebund) stehen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid im allgemeinen eher ablehnend gegenüber, sie befürchten die Aushöhlung des kommunalen Mandates und die Schmälerung der Handlungsfähigkeit der Verwaltung. Allerdings haben sie sich inzwischen mit den Regelungen arrangiert und eine Fülle eigener Gestaltungsvorschläge vorgelegt, in der Regel fordern sie aber weiterhin hohe Hürden bei der Bürgerbeteiligung.

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3. Hessen: 3 Beispiele für Bürgerbegehren

Einige Statistische Auswertungen über die Anwendung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Hessen sollen hier vorangestellt werden, bevor anhand dreier Beispiele das konkrete Verfahren, die Akteure und die Einschätzung der Beteiligten dargelegt werden. In Anlehnung an die Hessische Gemeindeordnung wird im folgenden von "Gemeinde", "Gemeinde-vertretung" und "Gemeindevorstand" gesprochen, damit sind aber immer auch Städte, Stadtverordnetenversammlungen und Magistrat gemeint.

3.1. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in der Praxis

Seit Inkrafttreten der Änderung der HGO (von 01.04.93 bis 31.03.98) wurden in Hessen insgesamt 100 Bürgerbegehren eingeleitet. "Hessen liegt bundesweit hinter Bayern und Nordrhein-Westfalen auf dem dritten Platz der Anwendungshäufigkeit. Dies dürfte das Resultat des gering gehaltenen Negativkatalogs sein: Insbesondere zur Bauleitplanung und zu Planfeststellungsverfahren sind in Hessen (wie in Bayern) Bürgerentscheide möglich, was in vielen anderen Bundesländern ausgeschlossen ist."47 Die Themen reichten von Schwimmbadsanierungen über Umgehungsstraßen, Bebauungspläne oder Golfplätze bis hin zur Größe des hauptamtlichen Gemeindevorstands. Rehmet zeigt, daß der Themenausschlußkatalog ein wesentlicher Faktor für die Nutzung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ist, da beispielsweise in Rheinland-Pfalz rund die Hälfte aller Bürgerbegehren und auch Bürgerentscheide, die in Hessen gültig waren, am Themen- ausschluß gescheitert wären.48

31 von 100 Bürgerbegehren wurden von der Gemeindevertretung wegen Unzulässigkeit nicht zum Bürgerentscheid zugelassen, etwa zur Hälfte wegen zu geringer Anzahl von Unterschriften (> 10%), Themenausschluß oder Fristversäumnis, teilweise wegen formaler Fehler oder eines mangelhaften Kostendeckungsvorschlages. Erklärte die Gemeindevertretung das Bürgerbegehren aus den beiden letztgenannten Gründen für unzulässig, wurde häufig protestiert oder Klage eingereicht, da in diesen Fragen meist ein Entscheidungsspielraum besteht. Soll, wie in fünf Fällen geschehen, daraufhin ein neues Begehren eingeleitet werden, so ist dies nur möglich, wenn es sich nicht gegen einen Beschluß der Gemeindevertretung richtet, da dieses Korrekturbegehren an die Sechs-Wochen-Frist gebunden ist. Bis auf Bayern haben alle Länder eine Frist von vier bis acht (Bremen:12) Wochen für die Unterschriftensammlung für Bürgerbegehren, die sich gegen einen Ratsbeschluß richten, eingeführt (so auch Hessen mit 6 Wochen nach Bekanntmachung des Beschlusses; das geschieht in der Regel mit der öffentlichen Sitzung der Gemeindevertretung). In Hessen richteten sich 78% der Bürgerentscheide gegen einen solchen Ratsbeschluß und waren somit an die Sechs-Wochen-Frist gebunden, bei den untersuchten Einzelfällen ist dies in Freigericht der Fall. In Kelkheim wurde zweimal ein Bürgerbegehren im Zusammenhang mit einem geplanten Golfplatz gestartet, im ersten Fall für den Golfplatz und nicht gegen einen Ratsbeschluß (aber mit dem Ziel, einen solchen zu erreichen) und ohne folgenden Bürgerentscheid, im zweiten Fall gegen den Golfplatz (und insofern gegen den Ratsbeschluß) und mit Bürgerentscheid. In Schauenburg lag kein Ratsbeschluß vor, stand aber bevor.

In insgesamt 43 (von 100) Fällen kam es zum Bürgerentscheid, in 16 Fällen beschloß die Gemeindevertretung das geforderte Anliegen. 23 Entscheide wurden im Sinne des Bürgerbegehrens beschlossen (Mehrheit der Ja-Stimmen und gleichzeitig mehr als 25% der Stimmberechtigten stimmten mit Ja), insgesamt liegt die Erfolgsquote bei rund 40%. Elf sprachen sich mehrheitlich gegen das Anliegen aus und neun scheiterten am Zustimmungsquorum.49 Dies ist insofern interessant, weil immerhin 9 von 43 durchgeführten Bürgerentscheiden an dieser Hürde scheiterten, davon wurde in acht Fällen das Quorum nur knapp verfehlt (20 -24,7%), in Sulzbach/Ts. fehlten gerade 20 Ja-Stimmen. Auch deutliche Abstimmungsmehrheiten von 78% in Niddatal oder 79% in Eschborn erreichten das 25%-Quorum nicht. Für Hessen bilanziert Rehmet: "Die Praxis zeigte, daß jeder fünfte Bürgerentscheid (9 von 43) an diesem Erfordernis scheiterte und daß dies vor allem in größeren Städten mit tendenziell geringerer Stimmbeteiligung geschah. (...) Es zeichnet sich ab, daß das 25 Prozent-Zustimmungsquorum die Erfolgschancen eines eingeleiteten Bürgerbegehrens ab einer Gemeindegröße von 30 000 Einwohnern deutlich vermindert."50 Knemeyer bestätigt diese Zahlen in etwa für Bayern: "Gäbe es in Bayern ein Zustimmungsquorum von 25%, so wären 58% der Entscheide daran gescheitert. In Gemeinden der Größenklassen ab 50.000 Einw. wäre kein Bürgerentscheid durchgekommen."51
Die durchschnittliche Abstimmungsbeteiligung lag in Hessen bei 48,9% (Bayern 49,4%), allerdings bei einer Spannweite von 82% bis 26,7% und (wie in Bayern) mit zunehmender Gemeindegröße sinkend.
Initiatoren waren in rund einem Viertel der Fälle Parteien, wesentlich häufiger dagegen Bürgerinitiativen und Einzelpersonen (zusammen fast 80% aller Fälle). Gerichtsverfahren wurden in 28 Fällen nötig, davon richtete sich die Hälfte gegen die Unzulässigkeitsentscheidung der Gemeindevertretung. Bürgerentscheide kosteten durchschnittlich rund 1,62 DM pro Einwohner.52

Die drei im folgenden untersuchten Fälle richteten sich gegen Planungsvorhaben: In Schauenburg und Kelkheim gegen einen Golfplatz, in Freigericht gegen eine innerörtliche Umgehungsstraße. Sie können in einiger Hinsicht gegenübergestellt werden, wenn auch die Einwohnerzahlen von rund 10000 bis gut 26000 reichen. Es wurde ein beim Bürgerentscheid erfolgreiches, ein erfolgloses sowie ein unecht (d.h. am 25%-Zustimmungsquorum) gescheitertes Begehren gewählt. Die wesentlichen Merkmale sind in der folgenden Tabelle gegenübergestellt.
Besonderer Dank sei an dieser Stelle der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie der Universität Marburg dargebracht, die mir umfangreiche Recherchemöglichkeiten in ihrem Archiv eröffnete.
 

    Übersicht der drei untersuchten Fälle 53
Schauenburg Kelkheim1* Kelkheim 2 Freigericht
Einwohner 10265 ** 26700 14500
Wahlberechtigte 8044 ** 20742 11052
Bürgermeister SPD direkt
gewählt
** CDU direkt
gewählt
CDU direkt
gewählt
Sitze in der Gemeindevertretung
CDU 8 ** 16 17
SPD 19 ** 9 11
BÜ 90/Die Grünen 4 ** - 3
FDP - ** 5 -
FWG 6 ** 5 -
NPD - ** 3 -
Sonstige - ** 7 6
Bürgerbegehren (BB)
Thema gegen 
Golfplatz
für 
Golfplatz
gegen 
Golfplatz
gegen Um-
gehungsstraße
BB gegen Ratsbeschluß nein nein ja ja
Initiatoren Initiative Initiative,
Golfclub
Umweltverbände,
Einzelpbersonen
Grüne,
Einzelpers.
Unterstützer Grüne ? SPD/UKW SPD
aktive Pers. (pro BB) 15 ? 45 10
Dauer der Unter-
schriftensammlung
2 Monate 3 Wochen 3 Wochen 3 Wochen
Zahl der Unterschriften
(benötigte Anzahl)
1200
(804)
2487
(2074)
3850
(2074)
1500
(1106)
Auseinandersetzung 
m.d.Thema vor BB?
6 Monate 5 Jahre 5 Jahre 6 Monate
Bürgerentscheid (BE) ja nein ja ja
juristische 
Auseinandersetzung?
nein - nein ja, Thema:
Sperrwirkung
Abstimmungsbeteiligung 43,7 % - 53,3 % 41,8 %
Pro BB in % der
Abstimmenden
34,3 - 51,9 53,9
Pro BB in % der
Stimmberechtigten
14,9 - 27,6 22,4
Ergebnis gescheitert erfolgreich erfolgreich unecht
gescheitert***
3.2. Schauenburg: gegen Golfplatz

In der Gemeinde Schauenburg (10265 Einwohner) wurde 1992 ein Bauantrag zur Errichtung einer 18-Loch-Golfanlage gestellt. Der Gemeindevorstand sprach sich für das Vorhaben aus und beschloß am 19 Januar 1993, das Abweichungsverfahren zum Regionalen Raumordnungsplan sowie die Änderung des Flächennutzungsplanes beim Zweckverband Raum Kassel zu beantragen. Am 23. März 1994 sollte darüber in der Gemeindevertretung beschlossen werden, allerdings begannen die Gegner des Vorhabens bereits im Februar 1994 mit der Unterschriftensammlung für ein Bürgerbegehren. Auch die Verwaltung ging darauf schon relativ früh ein und plante für März eine Bürgerversammlung zum Thema Golfplatz, um die Maßnahme "nicht am Bürger vorbei"54 zu planen. Am 9. März 1994 wurde das Bürgerbegehren mit den Unterschriften von 1347 wahlberechtigten Einwohnern zur Prüfung eingereicht. Die Gegner machten hauptsächlich ökologische Bedenken (verstärkte Ausbringung von Pestiziden und Düngemitteln, Steigerung der Lärmund Abgasemissionen) gegen den Golfplatz geltend, die Befürworter erklären, die Nutzung als Golfplatz sei ökologisch (Verringerung des Düngemitteleintrages) sowie wirtschaftlich (zusätzliche Gewerbesteuereinnahmen, Wegfall von Ausgleichszahlungen sowie mögliche neue Arbeitsplätze) von Vorteil.
Treibende Kräfte des Begehrens waren zwei Bürgerinitiativen und die Grünen, dagegen waren SPD, CDU und Freie Wählervereinigung (die zusammen die Parlamentsmehrheit stellen).

Zunächst regte sich Widerspruch gegen die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens, das die erforderliche Unterschriftenzahl erreicht hatte. Der Hessische Städteund Gemeindebund empfahl wegen formeller Mängel, das Bürgerbegehren für unzulässig zu erklären: die Fragestellung für das Bürgerbegehren sei auf den Unterschriftenlisten nicht richtig aufgeführt, außerdem sei der Gemeindevorstand, da das Prüfungsverfahren zur Änderung des Flächennutzungsplanes an den Zweckverband Raum Kassel abgegeben wurde, nicht mehr Adressat des Begehrens. Auch die fehlenden Geburtsdaten der Unterstützer auf den Listen wurden bemängelt, allerdings sprach sich ein konsultierter Staatsrechtsprofessor wie auch die Rechtsabteilung des Regierungspräsidiums dafür aus, die formalen Hürden bei Bürgerbegehren und -Entscheid nicht zu hoch zu hängen55. Dieser Auffassung schlossen sich der Gemeindevorstand und die Gemeindevertretung in der Sitzung am 27.4.94 an und machten damit den Weg für den Bürgerentscheid frei, der am 3.7.94 stattfand.

Für die Mobilisierung zum Bürgerentscheid wurden vielfältige Methoden angewandt: Infostände, Veranstaltungen, Hauswurfsendungen, Flugblätter, Plakate, Pressearbeit, Anzeigen und eine Demonstration. Auch die Entscheid-Gegner meldeten sich mit Veranstaltungen, Hauswurfsendungen, Pressearbeit und Anzeigen zu Wort, ein Aussitzen mit Blick auf das Zustimmungsquorum wurde also nicht versucht. Die Auseinandersetzung wurde überwiegend sachlich geführt. Die Initiatoren berichten von einer mittelmäßig häufigen Presseberichterstattung, allerdings inhaltlich ausgewogen. Für Bürgerbegehren und -Entscheid schätzen sie, rund 2800 DM ausgegeben zu haben.
Die Bürger entschieden bei einer Stimmbeteiligung von 43,72% mit 65,78% gegen das Begehren und mithin für den Golfplatz, 34,22% stimmten für das Begehren (= gegen den Golfplatz). Die Initiative konnte offenbar keine Bevölkerungsmehrheit für ihre Überzeugung gewinnen und akzeptierte dies auch, wenngleich die Golf-Gegner ankündigten, das Prüfungsverfahren zum Flächennutzungsund Bebauungsplan weiter kritisch zu begleiten.

3.3. Kelkheim/Taunus: gegen Golfplatz

Bei diesem Bürgerbegehren handelt es sich um einen besonderen Fall: Im Juni 1996 wurde zunächst ein Bürgerbegehren eingereicht, das die Errichtung eines Golfplatzes auf einem Städtischen Gelände zum Ziel hatte, initiiert von einer "Initiative Rettershof + Golf-Sport". Auch hier argumentierten die Golf-Befürworter mit einem wirtschaftlichen und ökologischen Nutzen für die Stadt Kelkheim. Die Gegner des Golfplatzes hatten schon ihre Absicht erkennen lassen, ein Bürgerbegehren zu starten, warteten damit aber bis nach dem Offenlegungsbeschluß des Bebauungsplanes ab. Die Befürworter kamen mit ihrem Begehren den Gegnern zuvor und erreichten, daß die Stadtverordnetenversammlung ihr Anliegen mehrheitlich übernahm und damit den Bürgerentscheid überflüssig machte (§ 8b (4) HGO). Gegen diesen Beschluß beziehungsweise den folgenden Offenlegungsbeschluß der Stadtverordneten leiteten dann die Golf-Gegner ihr Bürgerbegehren mit 3850 Unterschriften (1. Begehren: 2487) ein. Initiatoren waren BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland), HGON (Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz), SDW (Schutzgemeinschaft Deutscher Wald) und Kelkheimer Bürger. Dagegen agitierten die Golfsport-Initiative (die das erste Bürgerbegehren getragen hatte), CDU, F.D.P. und FWG (die zusammen die Stimmenmehrheit im Parlament besitzen).

Bei der Zulässigkeitsentscheidung über dieses zweite Begehren wurde argumentiert, ein durch Bürgerentscheid zustande gekommener Beschluß (gemeint war der allerdings faktisch nicht durch einen Bürgerentscheid erreichte Beschluß zur Offenlegung des Bebauungsplanes für den Golfplatz) sei erst nach drei Jahren zu ändern (§ 8b (7) HGO).
Diese Ansicht setzte sich allerdings nicht durch und die Stadtverordnetenversammlung entschied am 16.12.1996, das Begehren zuzulassen und den Bürgerentscheid am 26.01.1997 durchzuführen. Die Initiatoren hatten angeregt, den Entscheid zusammen mit der Kommunalwahl am 2.3.97 durchzuführen, um Kosten zu sparen.

Die Initiatoren mobilisierten mittels Infoständen, Veranstaltungen, Hauswurfsendungen, Flugblättern, Plakaten sowie Pressearbeit und Anzeigen. Zur Gegenmobilisierung wurden die gleichen Mittel eingesetzt. Die Berichterstattung in der Presse wird als mittelmäßig häufig und im wesentlichen als ausgewogen eingeschätzt. Allerdings wurde die Auseinandersetzung hier emotionsgeladener geführt, die Golf-Befürworter behaupteten beispielsweise, die Gegner hätten die Fragestellung (JA = gegen Golfplatz, NEIN = dafür) "bewußt ideologisch so gewählt (...), daß Gutgläubige getäuscht werden sollen. Lassen Sie sich deshalb nicht verwirren, wie das von den bekannten Demagogen beabsichtigt ist. Beachten Sie die Fragestellung einfach nicht und kreuzen Sie NEIN an."56

Die Golf-Gegner unterstellten den Befürwortern dagegen, das Begehren für den Golfplatz nur aus taktischen Gründen und zur Verhinderung eines Bürgerentscheides eingeleitet zu haben. Die von der Mehrheit der Stadtverordneten, die auch die Gegner des Begehrens unterstützten, durchgesetzte Terminierung des Entscheides auf den 26.1.97 und nicht wie von den Initiatoren gewünscht auf den Tag der Kommunalwahl (2.3.97) läßt immerhin vermuten, daß auf eine geringere Wahlbeteiligung und damit, durch das Quorum bedingt, bessere Chancen für die Gegner spekuliert wurde. Die Initiatoren gaben an, für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid rund 16000 DM ausgegeben zu haben.
Bei einer Abstimmungsbeteiligung von 53,3% stimmten 51,9% für das Begehren und somit gegen den Golfplatz, 48,1% stimmten dagegen (= für den Golfplatz).

3.4. Freigericht: gegen innerörtliche Umgehungsstraße

In Freigericht wurde am 7.11.1997 in der Gemeindevertretung der Beschluß gefaßt, im Ortsteil Somborn eine "innerörtliche Umgehungsstraße", d.h. eine gerade Straßenführung für eine zweifach abgewinkelte Straße auf einer Strecke von etwa 500 Metern, zu bauen. Die Kosten wurden in dem Beschluß mit 3.606.000 DM beziffert, das Landesverkehrsministerium hatte einen Zuschuß in Höhe von 2.541.700 DM bewilligt. Auch hier regte sich Widerstand, allerdings vor allem aus finanziellen und zweitrangig auch aus ökologischen Erwägungen. Am 18.12.97 wurden über 1500 Unterschriften zum Bürgerbegehren eingereicht. Initiatoren waren die Grünen unterstützt von der SPD (die noch zur Kommunalwahl am 2.3.97 die Maßnahme gefordert hatte), Gegner waren CDU und UWG (Parlamentsmehrheit).
Hier kam es auch zu einer juristischen Auseinandersetzung: Der Gemeindevorstand plante, wegen der Bindungsfrist der bereits beendeten Ausschreibung, noch vor dem 18. Januar erste Aufträge zu vergeben. Die Initiatoren stellten dagegen Eilantrag beim Verwaltungsgericht, dem vom Gemeindevorstand (bzw. der Bevollmächtigten vom Städte- und Gemeindebund) am 5.1.98 widersprochen wurde. Dennoch beschloß der Gemeindevorstand am 7.1.98, alle Auftragsvergaben bis zur Entscheidung im Bürgerentscheid zurückzustellen, damit konnte das Verwaltungsstreitverfahren beigelegt werden.

Die Initiative mobilisierte zum Bürgerentscheid mittels Infoständen, Hauswurfsendungen, Plakaten, Pressearbeit und Anzeigen. Die Gegner (= Befürworter der Straße) warben mit den gleichen Mitteln für Ihre Meinung. Die Auseinandersetzung wurde teilweise emotionsgeladen geführt, so wies die CDU in einem Flugblatt im Zusammenhang mit den Kosten der Straßenbaumaßnahme auch darauf hin, daß ein Bürgerbegehren mit erheblichen Kosten verbunden ist. Die Initiatoren wurden teilweise persönlich beleidigt, es wurde auch behauptet, Unterschriften seien "erschlichen" worden. Auf beiden Seiten wurden die Kostenschätzungen nach oben bzw. unten korrigiert und dabei richtiggehend mit Zahlen "jongliert" und die Argumentation reduzierte sich inhaltlich im wesentlichen auf die Finanzen. Eine Neigung, die Chancen für den Bürgerentscheid durch Stillschweigen oder Aufforderung zur Nicht-Abstimmung zu erhöhen, war bei den Entscheid-Gegnern indes nicht festzustellen.
Die Initiatoren berichten von häufiger Presseberichterstattung, die im allgemeinen als ausgewogen eingeschätzt wird. Ihre Ausgaben für Bürgerbegehren und -Entscheid geben sie mit 3500 DM an.

Am 15.3.98 fand der Bürgerentscheid statt. Bei einer Beteiligung von 41,78% stimmten 53,85% für das Begehren und somit gegen die Straße, 46,15% stimmten dagegen (= für die Straße). Trotz der Abstimmungsmehrheit fand die Bürgerinitiative keine ausreichende Mehrheit: Das Zustimmungsquorum von 25% wurde nicht erreicht, nur 22,4% der Stimmberechtigten stimmten zu. Da auch die Gegner dieses Quorum nicht erreichten, entschied die Gemeindevertretung mit der Mehrheit der Stimmen von CDU und UWG abschließend für den Bau der Straße. Die Initiatoren zeigten sich enttäuscht von diesem Ergebnis und vermuteten, daß hierdurch die Motivation der Bürger, an einem Entscheid teilzunehmen, weiter absinken würde. Freilich ist die Wahrscheinlichkeit, daß in einer Gemeinde binnen weniger Jahre zwei Entscheide stattfinden, doch sehr gering.

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4. Positionen der Parteien vor der Landtagswahl 1999 in Hessen

Im Hinblick auf die Landtagswahl im Februar 1999 wurden die im Landtag vertretenen Parteien (SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P.) am 10. Juni 1998 angeschrieben mit der Bitte, ihre aktuelle Position zur Erweiterung direktdemokratischer Elemente als Ergänzung des repräsentativen Systems, eine Zwischenbilanz vier Jahre nach der Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) sowie die Aussagen der Partei zu Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie, wie sie im Landtagswahlprogramm formuliert werden, darzulegen.57

4.1. SPD

Im Antwortschreiben vom 3. Juli 1998 verweist der Landesgeschäftsführer der SPD für die "grundsätzlich positive Haltung der SPD Hessen zu direktdemokratischen Elementen als Ergänzung des räpresentativen Systems"58 auf das (bis 1999) geltende Regierungsprogramm hin. Dort stellt die SPD fest, mit der Änderung der HGO zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheid "Wort gehalten" zu haben: "Es ist möglich geworden, (...) selbst initiativ zu werden und Entwicklungen auf kommunlaer Ebene zu steuern."59 Weiter heißt es dort: "Immer mehr Menschen stehen der Politik skeptisch gegenüber. Unsere Antwort darauf heißt: Entbürokratisierung und Demokratisierung. Durch die Änderung der Hessischen Gemeindeordnung sind die Möglichkeiten der direkten Bürgerbeteiligung - sei es bei der Bürgermeister-Direktwahl, sei es bei Bürgerbegehren und -entscheiden - deutlich ausgeweitet worden. Wir wollen, daß die hessischen Bürgerinnen und Bürger von ihren Möglichkeiten der direkten Einflußnahme auf Entscheidungen vor Ort Gebrauch machen."60

Im Entwurf für ein "Sozialdemokratisches Regierungsprogramm Hessen 1999 - 2003&quo t; heißt es einleitend, die SPD wolle "keine "Zuschauerdemokratie", sondern direktes Engagement vor Ort, wie es im ehrenamtlichen Bereich deutlich zum Ausdruck kommt."61 Im Kapitel IV (Modernisierung von Staat, Verwaltung und Kommunen) sind Bürgerbeteiligung und direktdemokratische Verfahren nicht ausdrücklich genannt, lediglich im Zusammenhang mit der Jugendhilfepolitik wird gefordert, "Kinder und Jugendliche nicht vordergründig als Adressaten von Politik, sondern als mitwirkungsfähige Subjekte zu begreifen. In Hessen gibt es eine Reihe von Beteiligungs- projekten bis hin zum Kinder- und Jugendparlament."62
Eine abschließende Einschätzung sei durch komplexe Veränderungen im kommunalpolitischen Gefüge (hier werden auch die Direktwahlen von Bürgermeister/innen und Landrät/innen genannt) noch nicht möglich, Änderungen an den derzeitigen Regelungen plant die SPD nicht.

4.2. CDU

Für die CDU schreibt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Landtagsfraktion: "Die Hessische CDU begrüßt die Möglichkeit, daß ein Bürger- entscheid durch ein Bürgerbegehren herbeigeführt werden kann." Allerdings sei das Quorum für das Bürgerbegehren zur Zeit "sehr niedrig, so daß eine relativ kleine Gruppe von Bürgern sehr wichtige Dinge von entscheidender Bedeutung zur Disposition stellen könnte. Insofern bleibt abzuwarten, ob das Quorum ausreichend ist und sich in Zukunft bewähren wird."63
Im Entwurf für das Wahlprogramm zur Landtagswahl 1999 wird die aktive Bürgerschaft im ehrenamtlichen Bereich gesehen, direktdemokratische Mitwirkungsformen sind nicht erwähnt. Die CDU will die Stellung der direkt gewählten Bürgermeister und Landräte stärken, für Kommunalwahlen Kumulieren und Panaschieren einführen und "für Beteiligungs- und Anhörungsrechte sachkundiger Einwohner eintreten. Diese können die Arbeit demokratisch legitimierter Gruppen ergänzen, sie ersetzen sie nicht und schränken deren Rechte nicht ein."64 Die kommunalen Spitzenverbände sollen zwingend in allen Fällen, in denen die Belange der Kommunen berührt werden, beteiligt werden. Gesetzliche Regelungen zu Beteiligungs- und Entscheidungsrechten für Kinder und Jugendliche auf komunaler Ebene lehnt die CDU ebenso ausdrücklich ab wie die Herabsetzung des Wahl- alters auf 16 Jahre bei Kommunalwahlen.
Ihrem Schreiben fügt die CDU noch ein Protokoll eines Forums der Landtagsfraktion über die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten in Hessen vom 12. Juni 1996 bei, in dem es im Vorwort heißt, die Direktwahl solle als "Chance zur unmittelbaren Bürgerbeteiligung weiterhin erfolgreich praktiziert und noch stärker als Element politischer Mitgestaltung verankert" werden.65

4.3. Bündnis 90/Die Grünen

Für Bündnis 90/Die Grünen schreibt der innenpolitische Sprecher der Landtagsfraktion: "Bündnis 90/DIE GRÜNEN haben die Einführung direktdemokratischer Elemente in Ergänzung des repräsentativen Demokratie schon immer für sinnvoll und notwendig gehalten."66 Die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Hessen wird als wichtiger Baustein hin zu einer aktiveren und lebendigeren Demokratie begrüßt, allerdings halten die Grünen Bürgerentscheide für ein "Nullsummenspiel": "Die Verkürzung politischer Fragestellungen auf "Dafür oder Dagegen" wird teilweise der Komplexität der zur Diskussion stehenden Sachverhalte nicht gerecht und läßt wenig Spielraum für demokratisch ausgehandelte Kompromisse. Daher erscheint uns die Etablierung in Institutionalisierung von anderen Beteiligungsformen, wie z.B. Mediationsvorhaben für eine wichtige Ergänzung."67
Im Kurzprogramm zur Landtagswahl wird nur allgemein die Erweiterung demokratischer Beteiligungsrechte angemahnt, im Landtagswahlprogramm heißt es: "Das Eintreten für BürgerInnenrechte, Solidarität mit Minderheiten und Erweiterung von demokratischen Beteiligungsrechten sind für uns keine Floskeln, sondern Wurzeln grüner Innen- und Justizpolitik."68
Neben dem Erreichten wollen die Grünen weiterhin verstärkt Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche einführen, auch auf Landesebene.
Änderungen an den bestehenden Rahmenbedingungen haben die Grünen nicht ins Auge gefaßt: "Der hessische Landesverband von Bündnis 90/Die Grünen hält mehrheitlich die jetzige Ausgestaltung der Bürgerbegehren und Bürgerentscheide für ausreichend und plant derzeit keine Änderungen. Ein Antrag auf Verringerung des Quorums für Begehren und Entscheide fand bei der Landesmitgliederversammlung am 27.6.98 keine ihn tragende Mehrheit." Weiter wird auch die 25%-Hürde als zwar hoch eingeschätzt, aber: "Ein Vorteil der auch im internationalen Vergleich hohen Anforderung ist es, daß die Elemente direkter Demokratie nicht von Lobbygruppen für ihre Zwecke instrumentalisiert werden können, sondern von einer ausreichende Zahl der betroffenen Bürger und Bürgerinnen getragen werden müssen."69

4.4. F.D.P.

Die F.D.P. hat keine Stellungnahme zu den aufgeworfenen Fragestellungen abgegeben. Sie hat statt dessen einen von der F.D.P.-Fraktion im Hessischen Landtag zusammengestellten Kommentar zum Gesetz geschickt. Die Sammlung: "Kleiner Leitfaden zu õ 8b Hessischer Gemeindeordnung. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid"70 führt zum Gesetzestext Erläuterungen und verschiedene richtungweisende Gerichtsentscheidungen auf - aber keinen Kommentar. Die Fragen aus dem Schreiben vom 10.6.98 wurden nicht beantwortet.

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5. Fazit: Perspektiven der Bürgerbeteiligung

"Demokratie lebt von der Möglichkeit der Bürger, sich an politischen Entscheidungen unmittelbar zu beteiligen. Nichts anderes meint der aus dem Griechischen stammende, mit "Herrschaft des Volkes" am einfachsten zu übersetzende Begriff. Im Gegensatz dazu aber haben wir eine "Zuschauer- demokratie" (Wassermann) entwickelt, in der sich die Entscheidungsmacht der Bürger auf ein Kreuzchen alle vier Jahre auf dem Stimmzettel beschränkt, mit dem sie zugleich ihre Stimme - im doppelten Wortsinn - abgeben und dann wieder ausschließlich zum Zuschauen verurteilt sind."71
Bisher wurden auf verschiedenen Ebenen der Bundesrepublik Formen der Bürgerbeteiligung beschrieben und verglichen. Außerdem wurden drei durchgeführte Bürgerbegehren daraufhin untersucht, wie sie zustandegekommen sind, wer zum Initiativkreis zählte, welche Ergebnisse erzielt wurden und wie diese aufgefaßt wurden. Die hessischen Parteien haben ihre Position zum Ausdruck gebracht. Nun sollen die Ergebnisse zusammengefaßt und zu einem Ausblick verbunden werden: Leben wir noch immer in einer "Zuschauerdemokratie"- und wenn ja: werden wir es weiter tun?

Auf Bundesebene wird noch grundsätzlich darüber gestritten, ob Art. 20 GG schon eine ausreichende Grundlage für direktdemokratische Elemente wie beispielsweise die Volksgesetzgebung durch Volksbegehren und Volksentscheid ist. Auch wird diskutiert, ob das Grundgesetz, das ja den Landesverfassungen vorgeht, von oben herab Homogenität schaffen müsse und insofern die Landesverfassungen mit ihren direktdemokratischen Regelungen zu weit gehen, oder ob nicht vielmehr das Grundgesetz sich der Diskussion, die in den Ländern über die Einführung direkter Demokratie geführt wird und in deren Verfassungen auch schon teilweise eingeführt wurde, stellen müsse und diese gesellschaftlichen Entwicklungen aufnehmen. Aus diesem Grunde ist die Diskussion noch weit von einem Konsens über die Einführung von mehr Bürgerbeteiligung entfernt. Auf Bundesebene bleibt es wohl vorerst bei der sogenannten Zuschauerdemokratie.

In den meisten Bundesländern ist die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch direktdemokratische Elemente nicht mehr umstritten. Die Diskussionen drehen sich im wesentlichen um die Ausgestaltung, Hessen liegt dabei nicht gerade an der Spitze der Modernisierer: einerseits ist in der Hessischen Verfassung das Referendum für Verfassungsänderungen obligatorisch (nur noch in Bayern so), andererseits sind die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheid relativ hoch. Volksinitiativen sind in Hessen nicht vorgesehen, dafür aber in einzelnen neuen Ländern, in denen im Durchschnitt die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheid niedriger liegen. Die neuen Bundesländer haben in dieser Richtung überhaupt mutige Schritte getan.
Folgende Gemeinsamkeiten für die bisherige landesstaatliche Praxis bilanziert v. Danwitz in seiner eher skeptischen Einschätzung:

Dagegen erklärt Degenhart: "Stärkste Form direkter Demokratie ist der volksinitiierte Volksentscheid: Der Gegenstand der erfolgreichen - Volksinitiative muß, sofern nicht die "besonderen Organe" des Staates die Volksinitiative von sich aus unverändert realisieren, der verbindlichen Entscheidung durch das Volk unterworfen werden. Gestaltungs- und Entscheidungskompetenz fallen hier zusammen. Die aus dem Volk gestaltete Initiative bildet den Gegenstand seiner Entscheidung, mag daneben auch ein Parallel- oder Gegenentwurf der staatlichen Organe, insbesondere des Parlaments zur Entscheidung gestellt sein, wie dies für Gesetzesinitiativen häufig möglich ist. Für die Staatsfunktion Gesetzgebung, in Gestalt also der Volksgesetzgebung, hat diese Form direkter Demokratie in den Verfassungen und in der Verfassungspraxis der Bundesländer die weitaus größte Bedeutung erlangt."73 Degenhart lobt die Bayerischen Regelungen: dort sind Volksbegehren nicht nur zur einfachen Gesetzgebung, sondern auch für Verfassungsänderungen möglich. Er schätzt Bayern als gutes Beispiel für eine lebendigere Demokratie ein, durch die direkte Demokratie habe dort bisher weder das parlamentarische System noch die Gesetzgebung Schaden gelitten.

Insgesamt spielt in den Ländern das Volk als Gesetzgeber im Gegensatz zum Bund immerhin eine Rolle, allerdings nicht überall auch mit Einfluß auf die Verfassung.
Es deutet dennoch einiges darauf hin, daß die Zuschauerdemokratie hier mittelfristig überwunden werden kann, zumal die Regelungen in den neuen Ländern positive Erfahrungen zu bringen scheinen74. In Hessen spielen allerdings Volksbegehren und Volksentscheide bisher nur eine geringe Rolle und es scheint kaum Initiativen zu geben, die dies ändern wollen. Eine Senkung des Quorums für Volksbegehren beispielsweise auf ein Zehntel der Stimmberechtigten wie in Bayern wäre hier angezeigt. Die Einführung einer dem Volksbegehren vorgeschalteten dritten Stufe (Volksinitiative) wie in den neuen Bundesländern mit einer Befassungs- und Beschlußpflicht des Landtages sollte ebenfalls erwogen werden, um das Parlament auch zwischen den Wahlen mit Gegenständen des Volkswillens befassen zu können.

Auf kommunaler Ebene haben inzwischen alle Flächenländer der Bundesrepublik Bürgerbegehren und Bürgerentscheid eingeführt.
Die Argumentation der Bayerischen Staatsregierung in ihrer Stellungnahme zum Volksentscheid für "Mehr Demokratie in Bayern" faßt Knemeyer wie folgt schlagwortartig zusammen:

Daneben sieht die Staatsregierung noch die Gefahr des "Minderheitendiktats", da bei einem fehlenden Zustimmungsquorum im Extremfall nur eine Person zur Abstimmung gehen und für den Antrag stimmen brauche, um diesem zum Erfolg zu verhelfen.75
Den erfolgreichen Ausgang des Volksentscheides im Sinne der Antragsteller, des Vereins "Mehr Demokratie", wodurch in der Bayerischen Verfassung die Hürden für die Bürgerbeteiligung sehr niedrig gehängt wurden, kommentiert Knemeyer: "Verankert in der Verfassung (Art. 7 und 12 BV) kann ein Bürgerentscheid ohne Quorum und ohne Finanzierungsvorschlag Kommunalpolitik maßgeblich bestimmen - hemmen."76

Diese Bewertung der Staatsregierung kann so nicht bestehen. Wohl hat der BayVerfGH ein Beteiligungs- oder Zustimmungsquorum eingefordert und die Sperrfrist für ungültig erklärt, aber die übrigen Regelungen wurden als verfassungskonform eingestuft und teilweise, vor allem in den neuen Ländern, auch schon in die Kommunalverfassungen aufgenommen. In der Praxis hat es bisher weder in Hessen noch in Bayern einen inflationären Gebrauch dieser Beteiligungsinstrumente gegeben. Die oben genannten Kritikpunkte der bayerischen Staatsregierung relativiert selbst Knemeyer nach einem Blick auf die Praxis: Das Ratsverhalten habe sich geändert, stellt er fest, der Rechtfertigungsdruck auf die Kommunalpolitiker sei gestiegen, die kommunalpolitischen Akteure stellten sich schon bei der Entscheidungsfindung auf die neuen Möglichkeiten ein. "Daß jedoch (...) die Existenz der neuen Möglichkeiten die örtliche Demokratie selbst in vielen Gemeinden verändert hat, ist noch keineswegs festzustellen." Auch sei die "allgemeine Wertung überzogen, daß in der bayerischen Kommunalpolitik örtliche Demokratie nicht mehr so sei, wie sie einmal war."77 Knemeyer wertet allerdings den demokratischen Mehrwert skeptisch, er fragt beispielsweise, ob die neuen Beteiligungsformen tatsächlich geeignet seien, mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger für Kommunalpolitik zu interessieren, oder ob nur weitere und einfachere Möglichkeiten für die ohnehin Aktiven eröffnet worden sind. Auch auf die Frage der Folgekosten geht er ein, vor allem werde durch Bürgerentscheide die Planungssicherheit für Investoren in Frage gestellt - diese Vermutung stützt er aber allein auf Aussagen des Bayerischen Städtetages.

Die im Vergleich hohe Anzahl von Bürgerbegehren in Hessen schätzt Rehmet78 als Folge des gering gehaltenen Negativkataloges ein, es fällt insbesondere auf, daß in den südlicheren Bundesländern (so auch in Hessen) neben dem allgemeinen Themenausschluß (z.B. Fragen der inneren Organisation der Verwaltung) ein breites Themenspektrum dem Bürgerentscheid zugänglich ist. In den nördlichen Ländern (beispielhaft seien Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen genannt) sind dagegen Bauleitplanung, Planfeststellungsverfahren, teilweise auch Abfall- oder immissionsschutzrechtliche Zulassungsverfahren oder ähnliche Verfahren zusätzlich von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ausgeschlossen. Ein Ratsbegehren, das einige Bundesländer kennen, gibt es in Hessen nicht. Hier ist das Bürgerbegehren auch auf Kreisebene nicht zulässig, was unter dem Aspekt, daß die Landkreise oftmal relativ willkürlich gebildete räumliche Konstrukte sind, eigentlich unverständlich ist: gerade Bürgerbegehren auf Kreisebene könnten in gewisser Weise identitätsstiftend wirken.

In der Regel wird in den Ländern um die Höhe der Quoren "gefeilscht", die als Voraussetzung für erfolgreiche Bürgerbegehren und Bürgerentscheide gelten sollen. Die bayerische Regelung mit geringen und gestaffelten Quoren wurde vom BayVerfGH für verfassungskonform erklärt. Im ganzen hat sich das Unterschriftenquorum bisher nicht als entscheidende Hürde für Bürgerbegehren herausgestellt79, eine Staffelung nach Gemeindegröße scheint aber für Hessen angezeigt; eine nicht mehr zu bewältigende Flut von Bürgerbegehren wäre dadurch jedenfalls nicht zu erwarten. Das Zustimmungsquorum beim Bürgerentscheid allerdings sollte kritisch überdacht werden. Es bedeutet schließlich, daß bei 35% Wahlbeteiligung mindestens 70% der Abstimmenden dem Begehren zustimmen müssen, wenn es erfolgreich sein soll. Der Vergleich der Abstimmungsbeteiligung mit Wahlen ist so nicht gerechtfertigt, da bei Wahlen immerhin die Vertreterinnen und Vertreter gewählt werden, die über mehrere Jahre eine stattliche Anzahl von Entscheidungen fällen sollen. Dagegen wird beim Bürgerentscheid nur eine einzige Sachentscheidung zur Abstimmung gestellt. Die Intensität der möglichen Bürgerbeteiligung ist zudem durch die jeweilige Form und Dichte der Bekanntmachungen der Gemeindeorgane bedingt, hier könnten weitere Forschungen Aufschluß über die Zusammenhänge ergeben.

Die Frist für Bürgerbegehren gegen einen Ratsbeschluß (in Hessen 6 Wochen) erscheint relativ kurz, da als Art der Veröffentlichung der Beschlüsse der Gemeindevertretung der Sitzungstag gilt und diese, sofern sie nicht (wie bspw. Satzungen) öffentlich bekanntgemacht werden müssen, auch nicht in Zeitungen und Bekanntmachungsorganen erwähnt werden müssen. In der Praxis scheinen aber die Inhalte von Bürgerbegehren ohnehin in der öffentlichen Diskussion zu stehen, so daß in Hessen nur ein Bürgerentscheid an diesem Erfordernis scheiterte80. Dennoch wird auch hier eine Frist von zwei Monaten keinen demokratieschädigenden Einfluß haben. Aus den ausgewerteten Bürgerbegehren läßt sich ablesen, daß sowohl Initiatoren als auch Gegner bisher bemüht waren, ihre Argumente mit vielfältigen Mitteln an die Bürger zu bringen. Alle Beteiligten schätzten den demokratischen Nutzen hoch ein, die Auseinandersetzung über ein gemeindespezifisches Thema wurde intensiv, wenn auch teilweise emotionsgeladen und bisweilen polemisch geführt. Für Irritationen sorgte gelegentlich die Fragestellung, die beim Bürgerentscheid zur Abstimmung gestellt wurde. Da nach dem Gesetz die Frage mit Ja oder Nein zu beantworten sein muß, wird der Inhalt gelegentlich "verkehrt": wer für das Anliegen des Bürgerbegehrens ist, muß mit Nein stimmen und umgekehrt. Inwieweit dies aber zu "ungewollt falschem Abstimmen" führen könnte, müßte noch untersucht werden. Gelegentlich wurde unterstellt, die Initiatoren hätten die Fragestellung bewußt irreführend formuliert, was sich aus den Unterlagen aber nicht belegen läßt, augenscheinlich waren alle Beteiligten in dieser Frage um einen Konsens bemüht.
Im Falle des Kelkheimer Bürgerbegehrens für den Golfplatz trat ein Symptom hervor, das kritisch gesehen werden muß: ein Begehren wurde initiiert, um einem gegenläufigen Begehren zuvorzukommen. Das Verfahren wurde nicht zum Entscheid gebracht, möglicherweise war dies auch gar nicht Ziel der Initiative. Die Bedingungen für solche "taktischen" Bürgerbegehren können weiterer Anlaß für zukünftige Forschungen sein.
Die Initiatoren gaben an, für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid erhebliche Finanzmittel aufgebracht zu haben, es ist auch festzustellen, daß diese mit der Gemeindegröße steigen. Dies ist nicht verwunderlich, da mit zunehmender Einwohnerzahl auch die Aufwendungen für die Werbung steigen. Dies ist freilich ein Faktor, der (neben dem Quorum) Bürgerbegehren in großen Gemeinden und Städten zusätzlich erschwert.

Die Positionen der Parteien sind im wesentlichen durch Kontinuität geprägt. Die SPD hat nach einer Phase der Modernisierung in Hessen das Thema der direkten Demokratie nicht mehr im Programm. Während Klages zeigt, daß 1988/89 noch 48% der Abgeordneten zu den Gegnern des Volksentscheids auf Bundesebene zählten, stand die Landes-SPD bei der Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern und Hessen auf der Seite der Befürworter. Die Sozialdemokraten wollen, daß die hessischen Bürgerinnen und Bürger auf Entscheidungen vor Ort Einfluß nehmen, daher haben sie die Regelungen in Hessen befürwortet. Derzeit sehen sie aber keinen Veränderungsbedarf, momentan wollen sie lieber das Ehrenamt und die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen stärken.

Die CDU steht der Erweiterung direktdemokratischer Elemente weiterhin überwiegend ablehnend gegenüber. So sprachen sich schon 1988/89 rund 80% der Bundestagsabgeordneten gegen Volksentscheide aus, auch wurde das Volksbegehren für "Mehr Demokratie in Bayern" von der CSU-Landtagsmehrheit abgelehnt. Auf kommunaler Ebene ist die Ablehnung nicht so stark, grundsätzlich begrüßt die Partei die Möglichkeit von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Hier werden aber höhere Verfahrenshürden gefordert, die die Anwendung teilweise verhindern würden. Demgegenüber will die CDU in Hessen die Rechte der direkt gewählten Bürgermeister und Landräte stärken (die Direktwahl wird als direkte Beteiligungsform angesehen) und die kommunalen Spitzenverbände zwingend bei bestimmten Verfahren beteiligen. Mehr Beteiligung für Kinder und Jugendliche lehnt die Partei ausdrücklich ab. Für Kommunalwahlen wird Kumulieren und Panaschieren gefordert. Die Christdemokraten wollen also eher die Verfahrenshürden höher ansetzen als die direkte Beteiligung der Bürger an Sachentscheidungen erweitern.

Bündnis 90/Die Grünen haben bisher immer relativ geschlossen für die Erweiterung der Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger gestritten. Auch bei der Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern und Hessen forderten sie eine Senkung der Verfahrenshürden. In letzte Zeit scheint sich aber ein Sinneswandel, zumindest bei den hessischen Grünen, zu ergeben: Bürgerentscheide werden wegen der Reduzierung auf die Antwortmöglichkeiten "Dafür oder Dagegen" als Nullsummenspiel eingeschätzt, Staffelung des Unterschriftenquorums und Senkung des Zustimmungsquorums werden mehrheitlich abgelehnt. Das 25 Prozent-Quorum wird offenbar auch bei den Grünen als Schutz vor einem "Minderheitendiktat" gesehen, der Landtagsabgeordnete Weist fordert sogar, es auch für Direktwahlen von Bürgermeistern und Landräten einzuführen.81 Wie auch die SPD wollen Bündnis 90/Die Grünen andere Beteiligungsformen wie Mediationsverfahren etablieren und die Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen ausbauen.

Die F.D.P. spricht sich zwar für mehr Beteiligungsrechte aus, streitet aber nicht gerade vehement für die Realisierung der Forderung. In Hessen haben die Liberalen 1992 die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid begrüßt und darüber hinaus die Einführung von Kumulieren und Panaschieren bei Kommunalwahlen gefordert. Die Partei befaßt sich offenbar weiterhin mit dem Thema und hat eine Hilfestellung dazu erarbeitet, wie sie aber zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheid steht und was ihre Vorstellungen für die Zukunft in Hessen sind, bleibt offen.

Kontrovers stehen sich also weiterhin CDU und SPD/Grüne gegenüber, die F.D.P. ist scheint noch keine Position eingenommen zu haben.
Einzig bei den Grünen hat sich unterdessen etwas bewegt, tendenziell hin zur Zufriedenheit mit den aktuellen Regelungen. Daß allerdings Bürgerbegehren ein "Nullsummenspiel" seien, ist eine bloße Vermutung: Die bisherigen Fragen in hessischen Bürgerentscheiden jedenfalls sind durchaus mit "ja" oder "nein" zu entscheiden gewesen. Es handelt sich zumeist um einzelne ausgewählte Sachprobleme, komplexe Gegenstände wie die Haushaltssatzung werden ohnehin nicht im Bürgerentscheid entschieden. Auch der Verdacht, bei keinen oder geringen Quoren könnten Mini-Mehrheiten durch Bürgerbegehren Kommunalpolitik bestimmen, hat sich nicht einmal in Bayern bewahrheitet, dort wurde nach der bisherigen Regelung mit geringem Unterschriftenund ohne Beteiligungsquorum statistisch in jeder Gemeinde alle neun Jahre ein Bürgerbegehren angestrengt. Bei einer Staffelung des Unterschriftenquorums für das Bürgerbegehren nach Gemeindegröße (also z.B. 10% für kleine Gemeinden und bis zu 5% bei Städten) wäre eher Chancengleichheit für die Stadtbewohner gewährleistet als inflationärem Gebrauch Tür und Tor geöffnet. Auch durch eine Senkung des Zustimmungsquorums beim Bürgerentscheid, das belegen die relativ jungen bayerischen Erfahrungen schon, würden Kommunalpolitik und Verwaltungstätigkeit nicht gelähmt werden. Die schwindende demokratische Legitimation von Entscheidungen, die mit Zustimmung von weniger als 25% der Stimmberechtigten gefällt werden, kann als hinreichender Grund für ein hohes Quorum nicht bestehen und sollte keinesfalls zum Umkehrschluß führen, daß für Direktwahlen von Bürgermeistern und Landräten auch ein Quorum eingeführt wird. Es ist eher das Gegenteil zu befürchten: Ein hohes Quorum ermöglicht es den Bürgerbegehren-Gegnern, die Sache schweigend "auszusitzen" und auf eine geringe Beteiligung zu hoffen. Ein geringes Quorum dagegen zwingt beide Seiten, für ihre Position und für den Urnengang zu gewinnen.

Im Ergebnis zeigt die Inanspruchnahme der Instrumente Bürgerbegehren und Bürgerentscheid durch Hessens Bürgerinnen und Bürger jedenfalls, daß diese auf kommunaler Ebene gut angenommen werden und Kommunalpolitik in einigen Facetten verändern. Vieles spricht dennoch dafür, die Regelungen zu vereinfachen, den Zugang der Bürger zu Angelegenheiten ihrer Gemeinde zu verbessern. Die andiskutierten Maßnahmen könnten ein Schritt auf dem Weg aus der "Zuschauerdemokratie" sein.

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6. Anhang

Anlage 1: Literaturübersicht
Anlage 2: Verfassungstext HessVerf. / Gesetzestext § 8b HGO
Anlage 3: Bürgerbegehren
Anlage 4: Anschreiben an die Parteien
Anlage 5: Antwortschreiben der Parteien


1998 Achim Kreis, Vervielfältigung nur mit Zustimmung des Verfassers

Anmerkungen zu den Fußnoten: "ebda." bezieht sich immer auf die unmittelbar vorstehende Fußnote. Die kompletten Literaturangeben stehen in Anlage 1.

1 Art. 20 Abs. 2 GG: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
2 von Danwitz 1992, S. 606
3 ebda.
4 Klemisch 1994, S. 49
5 Seifert, in: Stiftung Mitarbeit 1991, S. 1 - 12
6 von Arnim 1997
7 Seifert (Fußn. 5) S. 7
8 Mahrenholz, in: Klages 1996, S. 10/11
9 ebda.
10 Schnetz, in: IDEE 1992, S. 26
11 Avenarius 1995, S. 18
12 Isensee 1990, S. 458
13 Art. 74 Abs. 1 BV.
14 Art. 42 Abs. 1 Satz 3 VerfSchlH.
15 Art. 59 Abs. 2 Satz 2 Bad.-Württ. Verf.
16 Art. 109 Abs. 3 Satz 1 Rh.-Pf. Verf.
17 Art. 68 Abs. 1 Satz 7 VerfNW.
18 Art. 99 Abs. 2 Satz 2 SaarlVerf.
19 Art. 70 Satz 1 BremVerf.
20 Degenhart 1992, S. 86
21 Degenhart 1992, S. 89
22 Die entsprechenden Passagen aus der Verfassung sind in Anlage 2 aufgeführt.
23 Klages 1996, S. 14
24 Klages 1996, S. 268
25 6% der Stimmberechtigten, außerdem 5% in mindestens 50% der Landkreise und kreisfreien Städte
26 Klages 1996, S. 280
27 Klages 1996, S. 28
28 Grundsatzprogramm der SPD von 1990, zit. n. Klages 1996, S. 30
29 Klages 1996, S. 30
30 Klages 1996, S. 30
31 Klages 1996, S. 29
32 ebda.
33 Klages 1996, S. 31
34 Knemeyer 1997, S. 36
35 Die Wähler besitzen so viele Stimmen, wie Kandidaten zu wählen sind. Dann können sie entweder die ganze Liste unverändert ankreuzen; sie können innerhalb einer Liste einem Kandidaten bis zu drei Stimmen geben (kumulieren); sie können ihre Stimmen auf mehrere Wahlvorschläge verteilen (panaschieren); oder aber die Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens verbinden.
36 Knemeyer 1997, S. 168/169
37 beispielhaft Knemeyer 1997, Schefold 1996
38 Knemeyer 1997, Teil 2 Kapitel 9
39 §21 I S. 2 BWGO
40 vgl. die Diskussion bei Schefold 1996, S. 111
41 vgl. die Übersicht bei Rehmet 1998
42 Der Wortlaut des Gesetzes findet sich in Anlage 2.
43 Rehmet 1998, S. 4
44 Bayerischer Landtag 1995, Drs. 13/1521 und 13/2141
45 Bayerischer Verfassungsgerichtshof 1997, Leitsätze Abs. 6.
46 vgl. Knemeyer 1997, S. 122: 27% (Bayern), auch in Rehmet 1998: 25% in Hessen
47 Rehmet 1998, S. 5 und der bundesweite Vergleich ebda. S. 23
48 ebda. S. 10
49 nach: Rehmet 1998, S. 13
50 Rehmet 1998, S. 15. Auch Schefold (1996, S. 125) schreibt: "Vor allem für Städte und Gemeinden mit über 50000 Einwohner wirkt sich dieses Quorum annähernd Probhibitiv aus."51 Knemeyer 1997, S. 119
52 ausführlicher beschrieben ist die bisherige Nutzung in Rehmet 1998, mit vielen Tabellen und einer Übersicht über alle bisherigen Bürgerentscheide und Bürgerbegehren in Hessen.
53 Quelle: eigene Darstellung
54 Stellungnahme des Gemeindevorstandes zum bisherigen Verfahrensstand v. 14.2.94
55 Hessisch-Niedersächsiche Allgemeine v. 31.3.94, Nr. 76
56 aus einem Flugblatt der Golf-Befürworter, Archiv: Universität Marburg, Institut für Politikwissenschaft, Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie.
57 Das Schreiben ist in Anlage 4 beigefügt, die Antwortschreiben in Anlage 5.
58 Schreiben vom 3.7.98, siehe Anlage 5
59 SPD Hessen 1994, S. 119
60 ebda. S. 145
61 SPD Hessen 1998, S. 2
62 ebda. S. 32
63 Schreiben vom 3.7.98, siehe Anlage 5
64 CDU Hessen 1998, S. 61
65 CDU Hessen 1996, S. 5
66 Schreiben vom 12.7.98, siehe Anlage 5
67 ebda.
68 Bündnis 90/Die Grünen Hessen 19982, Abschnitt VII Bürgerrechte, Demokratie und öffentliche Sicherheit
69 Schreiben vom 12.7.98, siehe Anlage 5
70 F.D.P. Hessen, 1998
71 Stiftung Mitarbeit 1991, S. 63
72 v. Danwitz 1992, S. 603
73 Degenhart 1992, S. 80
74 vgl. Klages 1996
75 Landtags-Drucksache 13/1252, Stellungnahme der Staatsregierung, Punkt 3.
76 Knemeyer 1997, S. 117
77 Knemeyer 1997, S. 125
78 Rehmet 1998, S. 5
79 vgl. Knemeyer 1997 (Bayern) und Rehmet 1998 (Hessen).
80 Schefold (1996, S. 123) stellt fest, daß in Baden-Württemberg die Ausschlußfrist mit 17% die zweithöchste Fehlerquelle bei unzulässigen Bürgerbegehren ausmacht.
81 FR vom 17.07.1998, S. 31