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Stephanie H. Lehmkühler

Die Gießener Ernährungsstudie über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten (GESA) - qualitative Fallstudien

Zusammenfassung

Ziel der Gießener Ernährungsstudie über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten (GESA) ist die Deskription des Ernährungsverhaltens von Armutshaushalten und der damit verbundenen Handlungsweisen im Kontext ihrer jeweiligen Lebenssituation. Geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit, das Wohnen im sozialen Umfeld eines Brennpunkts, Stigmatisierung, Bildungsarmut, Gesundheitszustand und persönliches Schicksal sind nur einige Faktoren, die sich auf die sozialen und kulturellen Qualitäten des Essens und Trinkens sowie das haushälterische Handeln auswirken.
Insgesamt wurden 15 Armutshaushalte aus dem Gießener Brennpunkt "Gummiinsel" mittels verschiedener qualitativer und quantitativer Methoden analysiert. Es bildeten sich Verhaltensweisen und Missstände heraus, die aus amtlichen Statistiken nicht interpretierbar sind. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten vom Verhalten anderer Verbraucher mit höherem Einkommen unterscheidet. Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass ihr Handlungsspielraum wegen finanzieller Engpässe eingeschränkt ist, zum anderen fehlen Fähigkeiten und Fertigkeiten, um die Familienmitglieder mit Essen und Trinken zu versorgen. Des Weiteren sind wenig Kenntnisse über Ernährung, Gesundheit und Haushaltsführung vorhanden. Ernährung, Gesundheit und das damit verbundene haushälterische Handeln stehen nicht im Vordergrund der alltäglichen Probleme und Mangelzustände. Merkmale der materiellen und/oder sozialen Ernährungsarmut treten bei allen untersuchten Familien auf. Ausprägungsformen der sozialisations- und bildungsbedingten Ernährungsarmut wurden in den Familien der alten Armut (Familien, die schon lange Sozialhilfe beziehen) festgestellt. Ein häufig vorkommender Engpass ist die Phase der Gummiwoche, in der noch vorhandene Reserven - finanzielle Reserven und bevorratete Lebensmittel - so gestreckt werden müssen, dass sie bis zur nächsten Geldüberweisung ausreichen. Die Betroffenen sind in dieser Zeit auf familiäre Hilfe angewiesen, nehmen erneut Kredite auf, hungern bzw. verzichten auf bedarfsgerechte Versorgung mit Nahrung oder überbrücken die Phase durch Mitessen bei der Familie.
Zur Beseitigung bzw. Verringerung gesundheitsbelastender und zur Unterstützung bzw. Verstärkung gesundheitsfördernder Faktoren bedarf es niedrigschwelliger Armutspräventionsmaßnahmen mit unterschiedlichen Zugangsweisen, bei denen die Lebensweise und die Gewohnheiten der Armutshaushalte berücksichtigt werden (Empowerment-Strategien). Um diese Hilfe zur Selbsthilfe bildhaft darstellen zu können, wurde ein Modell über armutspräventive Netzwerkhilfen zur Stärkung von Ernährungs- und Haushaltsführungskompetenzen entwickelt. Das Modell stellt die Verknüpfungen zwischen Armutshaushalten und allen anderen an der Unterstützung beteiligten Strukturen und Systeme dar. Damit wird versucht, eine Komplettleistung für in Armutshaushalten lebende Personen, zur Beseitigung bzw. Verminderung von Mangelzuständen in ihrer Ernährung, in ihrer Gesundheit und in ihrem haushälterischen Handeln, anzubieten.
In der Arbeit wird betont, dass fortlaufende Diskussionen und Gespräche mit Experten (z. B. mit der Sozialen Familienhilfe, mit Ärzten, Sozialarbeitern, Politikern und Fachwissenschaftlern), ein gegebener finanzieller und sozialpolitischer Rahmen, vorbeugende Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, Multiplikatorenschulungen zu Themen rund um Ernährung und privates Haushaltsmanagement sowie eine kontinuierliche Arbeit mit den Betroffenen helfen dürften bzw. notwendig sind, um die ernährungsphysiologische, gesundheitliche und haushälterische Situation effektiv und effizient zu verbessern.
Auf der Grundlage der in der vorliegenden Studie gewonnenen Erkenntnisse über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten sollte weitere qualitative und quantitative Forschung betrieben werden, um - möglichst vernetzt - politische, ökotrophologische, institutionelle und private Maßnahmen zu initiieren, die eine positive Entwicklung der Lebenssituation der Betroffenen bewirken.

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